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Verantwortbare Kernenergie?

Veröffentlicht in Tegeder, G. (Hrsg.), Powered by? Szenarien nachhaltiger Energienutzung, Schriften des Cusanuswerks 18, 103-124. 

 

1. Die Tragweite unserer Abhängigkeit von Energie

Regelmäßig erreichen uns Pressemeldungen, die einen neuen Höchststand des Ölpreises verkünden. Grund für das öffentliche Interesse daran ist die starke Abhängigkeit aller Energiekosten vom Rohölpreis und wiederum die starke Abhängigkeit der Weltkonjunktur vom Energiepreis. Der Weltprimärenergieverbrauch von 2004 belief sich auf 119 Billionen kWh. Die dafür notwendige durchschnittliche Verbrauchsleistung entspricht der von ungefähr 10.000 Atomkraftwerken oder 10 Millionen Windkraftanlagen (ohne Einbeziehung von Spitzenverbrauch). Der Weltenergierat WEC prognostiziert ein Wachstum des Verbrauchs bis zum Jahr 2050 – trotz Einsparmaßnahmen und Effizienzsteigerungen in westlichen Ländern – um 70 bis 100 Prozent.
Im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurde die Produktion von Gütern verstärkt automatisiert: Maschinen ersetzten Muskelkraft. Diese Entwicklung, die durch billige Energie und durch enormen technischen Fortschritt ermöglicht wurde, ist noch heute – vor allem in Entwicklungsländern – lange nicht abgeschlossen. Durch die Globalisierungsvorgänge der letzten Jahrzehnte wurde der Energiepreis zu einem der entscheidenden Wettbewerbsfaktoren im Konkurrenzkampf der einzelnen Länder um Produktionsstätten und damit um Arbeitsplätze, Steuereinnahmen und Wohlstand. Jeder international asymmetrische Anstieg von Energiekosten, wie ihn „nationale Alleingänge“ in der Energiepolitik oft zur Folge haben, führt in der Regel zu einem Ungleichgewicht im globalen Wettbewerb.

Oft werden ökologische oder soziale Ideale propagiert, ohne dass die Folgen für die Volkswirtschaft hinreichend beachtet werden; der Wohlstand im eigenen Land ist ein Gut, welches nicht außer Acht gelassen werden darf. Selten werden beispielsweise in Vorträgen mit Titeln wie „100% erneuerbare Energien bis 2030“ die voraussichtlichen Energiekosten in einem solchen – technisch wahrscheinlich sogar umsetzbaren – Szenario erwähnt. Solange das internationale Wirtschaftssystem einem gnadenlosen Konkurrenzkampf entspricht, bleibt die Aufrechterhaltung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Landes eine der dringendsten Aufgaben der nationalen Politik. Wohlstand  als nationales Gut darf durch wichtige Maßnahmen wie Umwelt- und Klimaschutz, globale soziale Gerechtigkeit, Demokratisierung, Risikominimierung oder durch das Einnehmen einer Vorbildfunktion nicht vollständig relativiert werden. Diese Arbeit soll klären, ob durch die Aufrechterhaltung oder Steigerung von aktuellem Wohlstand die Nutzung der Kernenergie legitimiert werden kann, und zwar unter Einbeziehung aller Auswirkungen auf die nahe Zukunft und die kommenden Generationen als auch unter Berücksichtigung einer möglichen Verletzung des Rechts auf Selbstbestimmung, wie es in demokratischen Institutionen verwirklicht ist. 

 

2. Ethische Grundlagen der Entscheidungsfindung

Ethisch reflektierte Entscheidungen müssen alle relevanten Faktoren in die Entscheidungsfindung mit einbeziehen. Aussagen wie, man müsse ethische Handlungsziele und ökonomische Ziele abwägen, wolle man verantwortungsvolle politische Entscheidungen treffen, sind daher nicht haltbar. Selten steht man als Mensch, der sich entscheiden muss, vor der Alternative zwischen eindeutig „gut“ und „schlecht“. Jede Entscheidung zieht gute und schlechte Folgen nach sich, die abgewogen werden müssen.

Eine verantwortbare, das heißt letztbegründete Entscheidung bedarf eines höchsten, nicht mehr weiter hinterfragbaren Kriteriums, ohne das keine Abwägung möglich ist. Mögliche Begründungen für ein solches höchstes Kriterium darzustellen, etwa von Aristoteles, Immanuel Kant oder Albert Schweitzer, ist nicht die Zielsetzung dieser Arbeit. Wichtig ist hier nur, dass ein solches letztes Kriterium nicht selbst noch einmal Mittel zum Zweck und damit relativierbar sein kann. Wohlstand beispielsweise als letztes Handlungsziel anzunehmen ist nicht sinnvoll begründbar. Eine Letztbegründung zeichnet sich dadurch aus, dass man nicht weiter fragen kann: „Wozu möchten wir eine Steigerung des Wohlstands?“ Da es viele Möglichkeiten gibt, darauf zu antworten, kann Wohlstand nicht Maß aller Dinge sein. Denn für die meisten Menschen gibt es andere Güter, für die sie bereit sind, eine Verminderung des Wohlstands in Kauf zu nehmen: Freundschaften, Familie, Freizeit, ein Gefühl der Sicherheit oder auch das Nachgehen einer selbst auferlegten ethischen Handlungsmaxime und das damit erlangte gute oder bessere Gewissen. Doch bleibt ein Mindestmaß an Wohlstand ein wichtiges Mittel zum Erreichen dieser letzten Ziele.
 
Oft erleben politische Entscheidungsträger, dass ihre eigenen Überzeugungen nicht dem mehrheitlichen Willen des Volkes entsprechen. Meist liegt dies an einer mangelnden Informationsgrundlage der Bürger. In solchen Situationen sind in unserem System Politiker berechtigt, gegen den Volkswillen zu handeln. Tatsächlich sind viele Bestimmungen wie z.B. das Recht auf Leben nicht einmal durch eine 90-prozentige Mehrheit in der Bevölkerung veränderbar; über grundlegende Rechte darf nicht demokratisch entschieden werden. Viele von Entscheidungen Betroffene, wie von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossene Menschen, Kinder, noch nicht geborene Menschen und Bürger anderer Länder, haben kein Mitbestimmungsrecht an der jeweiligen Entscheidung. Deshalb sind Politiker gefordert, Rechte von Minderheiten und nicht zum Wahlvolk dazugehörigen Betroffenen zu berücksichtigen und zur Berücksichtigung dieser Rechte auch gegen den Volkswillen zu handeln – selbst mit der Befürchtung, deswegen abgewählt zu werden.

Die Einbeziehung der Rechte noch nicht geborener Menschen ist in ihrer philosophischen Begründung problematisch. Eine an Immanuel Kant angelehnte Formulierung eines auf kommende Generationen ausgeweiteten kategorischen Imperativs könnte wie folgt formuliert werden: Handle so, dass die Maxime deiner Handlung, würde sie zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung werden, zukünftigen Generationen eine Welt hinterließe, die so beschaffen ist, dass auch du in ihr gerne leben wolltest. Wenn der aktuelle Wohlstand nur auf Kosten von zukünftigen Generationen erhalten werden kann, ist die notwendige ethische Konsequenz, den Wohlstand so weit einzuschränken, dass er zu einem nachhaltigen Wohlstand wird. Erst wenn dieses Ziel erreicht wird, ist eine gerechte Abwägung von aktuellem und zukünftigem Nutzen gewährleistet. Ressourcen dürfen wir trotzdem in einem gewissen Maß verbrauchen; wir müssen unseren Nachkommen jedoch als Gegenleistung andere Güter überlassen, beispielsweise Kulturobjekte, Wissen oder gerechtere Strukturen.
 Der Unterschied zwischen Kantischem Imperativ und ökonomischer Verwirklichung wird durch die Tatsache gegeben, dass die gewünschte Welt nur dann tatsächlich verwirklicht wird, wenn alle dabei mitmachen; der Anspruch an das Handeln richtet sich jedoch absolut an jeden Einzelnen, selbst wenn die gewünschte Welt praktisch nicht in Aussicht steht. Ethisch wird eine Vorreiterrolle des Einzelnen gefordert, ökonomisch wird sie als unsinnig abgelehnt.

 

3. Prognosen als Voraussetzung verantwortungsvoller Entscheidungen

Da bei anstehenden Entscheidungen die benötigte Informationsgrundlage meist aus Annahmen über die Zukunft besteht, ist eine vor allem in wirtschaftlichen Diskursen verbreitete ethische Position der konventionelle Utilitarismus, nach dem eine Handlung ausschließlich nach ihren Folgen bemessen wird. Das höchste Kriterium zur Bewertung der Folgen ist dabei das Gemeinwohl, verdeutlicht mit dem Schlagwort „Das größte Glück der größten Zahl“.
Prognosen haben jedoch den Nachteil der inhärenten Unsicherheit. Diese Unsicherheit von Informationen über die Zukunft ist das Hauptargument gegen eine Ethik der Abwägung von Folgen mit dem Ziel der Nutzenmaximierung. Das Abschießen eines entführten Flugzeuges und die Tötung von unschuldigen Menschen würde beispielsweise durch eine sehr viel größere Zahl geretteter Leben gerechtfertigt; jedoch kann man nie mit völliger Gewissheit sagen, dass das Flugzeug nicht kurz vor dem Aufprall abdrehen würde. Prognosen sind nicht nur in diesem Beispiel, sondern generell unsicher: Erstens blenden sie bewusst oder aufgrund von Unkenntnis einige Faktoren aus, die sich aber im Endeffekt als äußerst relevant erweisen können. Zweitens basieren Prognosen zum größten Teil auf empirischen Untersuchungen, aus deren statistischen Ergebnissen sich nur bei genügend hohen Wahrscheinlichkeiten und ausreichend häufigen Wiederholungen aussagekräftige Voraussagen für die nahe Zukunft ableiten lassen. Die Unfallquote im Straßenverkehr lässt sich gut in wirtschaftliche Prognosen einberechnen, ohne verschiedene Szenarien entwickeln zu müssen. Bei niedrigen Wahrscheinlichkeiten und hohem Schadensausmaß müssen alternative Szenarien entwickelt werden, da die Angabe eines statistischen Durchschnitts nicht verwertbar ist.  Drittens können unvorhersehbare Ereignisse nicht in eine Prognose einbezogen werden. Wachstumsprognosen aus dem Jahr 2000 hatten beispielsweise die Terroranschläge im darauf folgenden Jahr nicht einmal als mögliches Szenario integriert. Freie Handlungen von Menschen sind dann nicht statistisch erfassbar, wenn die jeweilige Handlung eine sehr große Wirkung zur Folge hat. Für die Zukunft sind weitere Terrorangriffe denkbar. Auch technisch revolutionäre Innovationen, die Veränderung der politischen Stabilität, ausbrechende Kriege, die Entdeckung einer großen neuen Ölquelle sind Beispiele dafür, wie kleine, statistisch nicht erfassbare Ereignisse äußerst große Auswirkungen haben und jede erstellte Prognose marginalisieren können. Wie anfällig Energiepreise für eine Veränderung der politischen Rahmenbedingungen sind, zeigten schon die beiden großen Ölkrisen in den 70er und 80er Jahren.

 Trotz aller Schwierigkeit und Unsicherheiten bezüglich Informationen über die Zukunft bleiben sorgfältig erstellte Prognosen jedoch die einzige Basis, auf der verantwortungsvolle und intersubjektiv rechtfertigbare Entscheidungen getroffen werden können. Die zur Abwägung notwendige Quantifizierung der Folgen ist auch über rein ökonomische Faktoren hinaus möglich (z.B. kann auch einem schönen Ausblick oder dem subjektiven Sicherheitsgefühl mit der später beschriebenen Methode der Konsumentenrente ein Preis zuerkannt werden); doch versagt diese Quantifizierung einerseits bei der Verletzung von Grundrechten und andererseits bei möglichen schweren Folgen von geringer Wahrscheinlichkeit. Diese Art von unwahrscheinlichen, aber denkbaren Alternativszenarien müssen trotzdem in die Entscheidungsfindung einbezogen werden: Bei möglichen Katastrophenszenarien sollte die Schadensgröße gegenüber der nur ungewiss bestimmbaren Eintrittswahrscheinlichkeit überproportional gewichtet werden , da aus dem Schaden folgende Verletzungen grundlegender Rechte nicht durch geringe Wahrscheinlichkeiten und durch zweckrationale Gründe relativiert werden können. Auch stark optimistische Szenarien dürfen nicht berücksichtigt werden , da eine Überversorgung im günstigen Falle besser ist als eine Unterversorgung im worst case. Bei der Frage der Nutzung der Kernenergie sind also Argumente wie die folgenden auszuschließen: 1) In einigen Jahrzehnten werde man Verfahren entwickeln, mit denen man allen hochradioaktiven Atommüll zu relativ ungefährlichen Substanzen zerlegen kann. 2) Innerhalb einiger Jahre können wir – entsprechende Forschungsgelder vorausgesetzt – einen Reaktor mit inhärenter Sicherheit (d.h. mit einer physikalischen Unmöglichkeit einer Kernschmelze und des damit meist einhergehenden Austretens von Radioaktivität in die Umwelt) entwickeln. 3) Ein Endlager für radioaktiven Abfall ist politisch durchsetzbar und kann diesen über einige Jahrtausende sicher aufnehmen.

 

4. Abwägung der Argumente

 Die Kernenergie galt in den 50er und 60er Jahren als großer Hoffnungsträger für die Zukunft; sie versprach billige, saubere Energie, die ressourcenarme Länder wie Deutschland unabhängig von Importen von Rohstoff wie Erdöl machen und damit die Versorgungssicherheit garantieren sollte. Wegen der instabilen weltpolitischen Lage stieg die Forderung nach weiteren Investitionen in die Kernenergieforschung und den Bau entsprechender Anlagen. Allmählich sank durch schwere Unfälle wie bei Harrisburg 1979 und Tschernobyl 1986 die öffentliche Akzeptanz von Kernenergie erheblich. Studien über das erhöhte Krebsrisiko im Umkreis von Kernkraftwerken während des laufenden Betriebes sowie  über die Gefahr schwerer Unfälle, aufkommende Fragen nach der Entsorgung radioaktiven Mülls und später die Angst vor terroristischen Angriffen stärkten diese Bewegungen, welche auch keine Gelegenheit ausließen, in der Öffentlichkeit entsprechende Angst zu schüren. Die Anti-Atomkraft-Bewegung verband sich mit anderen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen und erlangte großen politischen Einfluss, so dass unter der rot-grünen Regierung im Jahre 2000 der Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland bis zum Jahre 2021 beschlossen wurde.

 Hohe Energiepreise, die wachsende Angst vor einer zu großen Abhängigkeit von Energieimporten und vor allem das zunehmende Bewusstsein, dass uns ein Klimawandel bevorsteht, führte in den letzten Jahren wieder zu einer Steigerung der politischen und öffentlichen Akzeptanz der Kernenergie. Die Positionen der Befürworter reichen dabei von der Anratung einer Verlängerung der Laufzeiten bestehender Anlagen bis zu Überlegungen, neue Anlagen zu bauen. Eine Abwägung der Positionen für und gegen die Kernenergienutzung muss den vermeintlichen Vorteilen (geringe Energieerzeugungskosten, geringe Importabhängigkeit, geringer Ausstoß von Treibhausgasen und gewinnbringende Exportmärkte) entsprechende Nachteile gegenüberstellen. Zu letzteren gehören Betriebs- und Unfallrisiken, Entsorgung von radioaktivem Müll, Proliferation  und die später ausführlich behandelte Pfadabhängigkeit. Zunächst soll hier genauer auf das am häufigsten angebrachte Argument der „billigen Energie“ eingegangen und die Möglichkeit der Integration von weiteren Vor- und Nachteilen in ökonomische Risikokalküle diskutiert werden. Anschließend soll die Kernenergie auf ihre Vereinbarkeit mit einer Gerechtigkeit der Generationen und auf ihre Demokratiefähigkeit überprüft werden. Auf dieser Basis werden Schlussfolgerungen für eine heutige Energiepolitik gezogen.

 

Kosten der Energieerzeugung
 Die Erzeugungskosten des deutschen Strommixes lagen im Jahr 2006 bei 4,3 Cent pro Kilowattstunde. Dieser Preis setzt sich aus den Kosten der verschiedenen Energieträger zusammen. Dabei sind Kernenergie aus bereits abgeschriebenen Kraftwerken und Braunkohle, mit denen hierzulande rund die Hälfte der Strommenge hergestellt wird, mit Erzeugungskosten von jeweils 2-3 ct/kWh mit Abstand die günstigsten Energieträger.  Jedes Ersetzen der Kernenergie durch andere Energieträger als Braunkohle würde folglich die Stromerzeugungskosten in die Höhe treiben – unter der Prämisse, dass die Preise in einem freien Markt ohne Subventionen zustande kommen.

 Diese Voraussetzung ist nicht gegeben. Direkte Subventionen der Kernenergie in Deutschland bestehen durch die fehlende Besteuerung der Rohstoffe Uran und Plutonium, durch steuerfreie Rückstellungen für Schadensfälle in Höhe von 35 Mrd Euro, durch staatliche Mittel für den Abbau von Atomanlagen (Auswahl: 6,6 Mrd Euro für die Sanierung des Urantagebaugebiets Wismut, 2,5 Mrd Euro für die Stilllegung und die Demontage von Atomanlagen) und durch einen öffentlichen Finanzierungsanteil an gescheiterten Projekten von bisher 9 Mrd Euro. Neben den nationalen Subventionen wurden außerdem über den EURATOM-Vertrag seit 1957 rund 400 Mrd Euro an Fördermitteln ausgegeben. Indirekte Subventionen sind durch nationale Forschungsgelder (u.a. 20 Mrd Euro für den Bau von Forschungsreaktoren), die Übernahme der Aufgabe der Müllentsorgung durch den Staat (allein die bisherigen Castortransporte summieren sich auf 3 Mrd Euro)   und vor allem durch die fehlende Pflicht zur Internalisierung externer Kosten gegeben: Atomkraftwerke müssen in Deutschland nur bis zu einem Betrag von 2,5 Mrd Euro haftpflichtversichert sein, obwohl sich die Kosten eines möglichen Unfalls auf mehrere Billionen Euro summieren könnten.  Würde man überhaupt eine private Versicherungsgesellschaft finden, die in der Lage und auch bereit wäre, für alle Schäden und Folgeschäden eines nuklearen Unfalls mit Freisetzung großer Mengen von Radioaktivität in die Umgebung aufzukommen, würden sich die Erzeugungskosten von Atomstrom um 21,5 bis 50 Cent pro Kilowattstunde erhöhen. 
 Atomenergie ist aus doppeltem Grund nicht kompatibel mit einem freien Markt: 1) Die Versicherung der Risiken und die Aufgabe der Entsorgung der Abfälle müsste eine private Versicherungsgesellschaft oder der Staat übernehmen. Da dies entweder nicht machbar ist oder zur Unwirtschaftlichkeit der Kernenergie führen würde, wird auf eine Haftung bewusst verzichtet. 2) Die Kosten für Forschung und Bau der Anlagen sind so hoch, dass sie sich innerhalb von 10 Jahren noch nicht amortisiert haben. Da eine der Voraussetzungen für private Investitionen jedoch in der Amortisierung innerhalb von 10-20 Jahren besteht, würde heute in einer freien Energiewirtschaft kein neues Kernkraftwerk gebaut werden. Selbst eine nicht-marktkonforme Amortisierung in mehreren Jahrzehnten ist für neue Anlagen nur durch entsprechende Subventionierung möglich.

 Nun ist die Notwendigkeit der Subventionierung nicht unbedingt ein Argument gegen eine bestimmte Energieform. Subventionen können durch ein entsprechendes Marktversagen gerechtfertigt werden. Im Bereich der Energiewirtschaft besteht das Marktversagen vor allem durch die Existenz von Allmende-Gütern, das sind begrenzt vorhandene Gemeingüter.   Das typische Beispiel dafür ist die öffentliche Wiese, auf der alle Bauern ihre Kühe weiden lassen dürfen. Da sich aber niemand für die Weide verantwortlich fühlt und jeder Bauer vor dem anderen zum Zuge kommen möchte, wird die Weide überstrapaziert und bald unbrauchbar. Dieser Weide entsprechen in der Energiepolitik u.a. die Atmosphäre, die Sicherheit der Menschen und der Wohlstand kommender Generationen. Dem Marktversagen der Allmende-Güter kann man jedoch nur in einem geschlossenen Markt unter der Einbeziehung von externen Kosten begegnen, da sonst kein fairer Wettbewerb gewährleistet ist. Die Argumentation in Bezug auf Kernenergie lautet: Wenn wir unsere Atomkraftwerke durch Einbeziehung externer Kosten unwirtschaftlich machen (z.B. indem wir eine volle Haftpflichtversicherung fordern), werden wir den Strom folglich aus Frankreich und Tschechien importieren. So lange das Marktversagen nicht international überwunden wird, kann man externe Kosten nicht einfach „theoretisch“ in den Preis integrieren oder entsprechende Steuern erheben. Ein Beispiel für ein solches Vorgehen wäre es, die Kosten des Klimawandels von ungefähr 70 Euro pro Tonne CO2-Emission auf fossil gewonnene Energie umzulegen. Obwohl dieser Betrag eine realistische Einschätzung der externen Kosten dieser Emissionen darstellt und Kohlestrom unwirtschaftlich machen würde, ist dieses eigentlich notwendige Vorgehen national nicht durchführbar; Prognosen für die nähere Zukunft dürfen externe Kosten also nicht einbeziehen. Ein Energiemix ohne Atomstrom aus vorhandenen Kraftwerken führt, sofern man diesen nicht vollständig durch Braunkohlestrom ersetzt, zumindest kurzfristig zu höheren Energiepreisen. Da die Erzeugungskosten von 2-3 Cent pro Kilowattstunde jedoch nur für den heutigen Kraftwerkspark gelten, dessen Baukosten zum größten Teil schon abgeschrieben sind, muss man berücksichtigen, dass eventuelle Neubaukosten von Atomkraftwerken auch auf den Strompreis umgelegt werden müssen. Diskutiert man einen möglichen Neubau, muss man (am Beispiel des in Olkiluoto/Finnland im Bau befindlichen Reaktors) um 1,8 bis 8 Cent/kWh erhöhte Energieerzeugungskosten in die Wirtschaftlichkeitsberechnungen einbeziehen (1600 MW, 90% Verfügbarkeit, 3,2 Mrd Euro Baukosten: 8 Cent bei einer marktfähigen Amortisierung in 10 Jahren, 1,8 Cent bei nicht-marktkonformen 60 Jahren, ohne Instandhaltungs- und Abfallentsorgungskosten). Unter marktwirtschaftlicher Betrachtung und ohne Einbeziehung aller direkten Subventionen ist Atomstrom, der mit neu gebauten Anlagen gewonnen wird, teurer als alle andere fossilen und sogar teuer als einige erneuerbare Energieträger.

 

Ausstoß von Treibhausgasen

Dieser Mehrpreis kann aber, genau wie Subventionen, durch bestimmte Vorteile gerechtfertigt werden. In der aktuellen Diskussion um angemessene Maßnahmen, dem Klimawandel zu begegnen, sehen die Betreiber von Kernkraftwerken eine gute Möglichkeit, die verlorene gesellschaftliche Akzeptanz der Atomenergie zurück zu gewinnen. „In Deutschland werden durch die Nutzung der Kernenergie jährlich bis zu 150 Millionen Tonnen CO2 vermieden. (…) Die ehrgeizigen Klimaschutzziele in Deutschland  können nur erreicht werden, wenn die Kernenergie weiterhin zum Einsatz kommt“ , so das Deutsche Atomforum.

 Atomenergie ist keinesfalls CO2-neutral. Bezieht man den Bau der Anlagen sowie den Abbau des Rohstoffs Uran und die Herstellung der Brennelemente mit ein, summiert sich der Kohlenstoffdioxidausstoß auf 10 bis 160 Gramm pro Kilowattstunde.   Die große Spannweite ergibt sich aus den unterschiedlichen Uranabbaubedingungen: Je geringer der Urangehalt im Erz, desto energieaufwändiger ist die Gewinnung von reinem Uran. Da Uranerz von guter Qualität immer seltener wird, muss immer mehr auf schlechtere Quellen ausgewichen werden (Normalerweise enthalten derzeitige Uranvorkommen etwa 1 % Uran. In Olympic Dam in Australien wurde unlängst eine Uranlagerstätte mit einem Erzgehalt von nur 0,044 % erschlossen).  Die CO2-Bilanz von Atomstrom wird sich folglich von Jahr zu Jahr verschlechtern. Trotzdem liegt selbst ein Wert von 160 g/kWh deutlich unter dem von Strom aus fossilen Energieträgern wie Stein- und Braunkohle, der bei etwa 1 kg/kWh liegt.

 Unterschlagen wird bei dieser Berechnung außerdem der enorme Aufwand durch die Entsorgung des mittel- und hochradioaktiven Abfalls. Der zukünftige Energieverbrauch dafür ist nicht berechenbar, da Prognosen über mehrere Jahrhunderte keine Aussagekraft mehr besitzen. Deshalb können diese Kosten nicht in den Vergleich mit einbezogen werden.
Zurzeit sind in Deutschland 27 neue Stein- und Braunkohlekraftwerke im Bau oder in Planung, das größte davon ist das Braunkohlekraftwerk Neurath mit CO2-Emissionen von bis zu 36 Millionen Tonnen pro Jahr. Wird die bis 2021 wegfallende Atomenergie, mit der heute 163 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugt werden,   ausschließlich durch Kohle ersetzt, ist die Prognose der Atomlobby bezüglich des zusätzlichen CO2-Ausstoßes realistisch. Da für Deutschland eine Reduktion der Emissionen gemäß dem Kyoto-Protokoll und darüber hinaus angestrebt wird,   mag ein Befürworter der Kernenergie nun behaupten, es wäre nicht möglich, mit Hilfe von erneuerbaren Energien sowohl die Atomkraft als auch einen Teil der Kohlekraft zu ersetzen. Daraus könnte dann gefolgert werden, dass die angestrebten Klimaschutzziele nur unter Miteinbeziehung der Kernenergie erreichbar seien. Dass aber die Kombination hocheffizienter fossiler Energietechniken (dezentrale Anlagen mit Kraft-Wärme-Kopplung), erneuerbarer Energien und Effizienztechnologien (so genannte Negawatts: eingesparte Energie z.B. durch Passivhäuser, Energiesparlampen, etc.) das Potential hat, Atomstrom und einen größeren Teil der Energie aus Kohlekraftwerken zu ersetzen, und dass dabei die Versorgungssicherheit weiter garantiert werden und außerdem das Klimaziel eingehalten werden kann, ist weitgehend unumstritten. Das größte Problem, die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit durch die Bereitstellung einer Grundlastversorgung ist für einen Energiemix, der weiterhin fossile Energieträger enthält, lösbar; selbst für einen Energiemix, der nur aus erneuerbaren Energiequellen besteht, gibt es viel versprechende Ansätze, einerseits zur Aufrechterhaltung von Grundlast, z.B. durch eine intelligente Vernetzung vieler lokal getrennter Energieerzeuger zu „virtuellen Kraftwerken“ und durch verbesserte Speichertechnologien, andererseits zur Verminderung des Grundlastbedarfs z.B. durch Umlage des aktuellen Strompreises an der Leipziger Energiebörse an den Verbraucher.

Die entscheidende Frage ist nicht die der Machbarkeit, sondern die der Erzeugungskosten eines atomstromfreien und CO2-armen Energiemixes. Einen sinnvollen Vergleich bieten die Kosten pro eingespartem kg CO2 für die jeweiligen Energieträger. Amory Lovins, Geschäftsführer des Rocky Mountain Institutes und Träger des Alternativen Nobelpreises, fasst diese Daten wie folgt zusammen: „nuclear power saves half as much carbon per dollar as windpower and traditional cogeneration, half to a ninth as much as innovative cogeneration, and a tenth as much as end-use efficiency“.  Da jedoch jede potenzielle Einsparmaßnahme mengenmäßig beschränkt ist, erhöhen sich die Kosten pro eingesparte Tonne CO2 mit steigenden Einsparzielen. Eine Studie der renommierten McKinsey Unternehmensberatung rechnet bei dem in Deutschland angestrebten Einsparziel mit Kosten zwischen 32 und 175 Euro pro eingesparte Tonne CO2 (ohne Atomstrom).  Das Ziel der Studie war die Errechnung eines „wirtschaftsoptimalen“ Emissionszieles bis 2020, das bei 26% Reduktion im Vergleich zu 1990 ohne Atomstrom und bei 33% mit Atomstrom erreicht sei. Die von der Bundesregierung angestrebten 40% seien also auf jeden Fall konjunkturschädigend, jedoch weit mehr mit einem Ausstieg aus der Kernenergie.

Die McKinsey-Studie vernachlässigt alle Folgekosten der Energiepolitik, die nach 2020 auftreten. Als das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung DIW die Kosten für einen weltweiten Temperaturanstieg um 4,5 Grad allein für Deutschland auf 800 Mrd Euro bis 2050 bezifferte, erkannten auch viele Ökonomen den wirtschaftlichen Nutzen von ambitionierten Klimazielen. Nichtsdestotrotz können wir der McKinsey-Studie folgende wichtige Information entnehmen: Dem Klimawandel angemessen entgegenzuwirken wird zunächst – d.h. in den nächsten zwei Jahrzehnten – zu starken Wohlstandseinbußen führen.  Ein Verzicht auf die Nutzung vorhandener Kernkraftwerke zum Erreichen der Klimaziele führt zu einer noch stärkeren Minderung des Wirtschaftswachstums. Maßnahmen gegen den Klimawandel, Maßnahmen zur  Minderung des Risikos Atomkraft und aktueller Wohlstand stehen – aufgrund der beschränkten Menge an verfügbarem Geld – also in einem bestimmten Abhängigkeits-verhältnis zueinander.  (Abb. 1)

 

Betriebs- und Unfallrisiken

 Leider sind das „Risiko Klimawandel“ und das „Risiko Atomkraft“ keine Zahlen, die man einfach miteinander verrechnen kann. Darüber, dass ein anthropogener Klimawandel stattfindet, herrscht spätestens seit der Veröffentlichung des vierten Sachstandberichtes des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) im Jahr 2007 keine Ungewissheit mehr. Die Folgeschäden lassen sich prognostizieren, zu einem großen Teil ökonomisch darstellen und in einen errechenbaren Zusammenhang zum Ausstoß von Treibhausgasen bringen. Bei der Kernenergienutzung hingegen sind sowohl Schadensausmaß als auch das Unfallrisiko schwer prognostizierbar, außerdem ist aufgrund der geringen Eintrittswahrscheinlichkeit ein Unfall in Deutschland innerhalb der nächsten Jahrzehnte äußerst ungewiss, jedoch möglich.

Das Bundesforschungsministerium gab schon in den siebziger Jahren in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Reaktorsicherheit die erste Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke (DRS) in Auftrag. Die Ergebnisse der letzten Phase dieser Studie (DRS-B) wurden am 30. Juni 1989 vorgestellt: Die errechnete Gesamthäufigkeit einer Kernschmelze mit Freisetzung von stark radioaktivem Material in die Umwelt liegt nach dieser Studie bei einem Unfall in 33.000 Reaktorbetriebsjahren (Ra), bei optimalen accident management-Maßnahmen sogar nur bei einem Unfall in 250.000 Betriebsjahren. Die Zahl der voraussichtlichen Todesfälle belief sich auf durchschnittlich 500.000 (diese hängt jedoch stark von der Bevölkerungsdichte der betroffenen Region ab).  Das Risiko von 1/33.000 Ra darf nicht unterschätzt werden: Bei weltweit 444 Atomreaktoren  würde das bedeuten, dass es im Mittel alle 75 Jahre zu einem Unfall kommt.

 Solche Zahlen sind deshalb sehr problematisch, da sie nur auf kalkulierbaren Risiken basieren. Kaum einer der deutschen Atommeiler würde einem Terrorangriff standhalten, bei dem eine große vollbetankte Passagiermaschine in den Reaktor stürzt.  Auch menschliches Versagen bei prinzipiell beherrschbaren Unfällen ist möglich. Die Wahrscheinlichkeiten für solche Szenarien sind schlicht unbestimmbar. Da die technische Risikowissenschaft, die „auf der klaren Trennung von Risiko und Wahrnehmung“  beruht, bei zunehmender Komplexität der Systeme immer stärker versagt, führte der Soziologe Ulrich Beck gegen das Rationalitätsmodell Max Webers ein Prinzip der „Nicht-Rationalisierbarkeit der Risikoungewissheit“ ein. Dem verbleibenden subjektiven Aspekt wird nun viel stärkeres Gewicht zugeschrieben. Je globaler das Problem und je weniger berechenbar die Gefahr, desto mehr verschwimmt die „Unterscheidung zwischen Risiko und kultureller Wahrnehmung des Risikos“. Becks Inszenierungsthese geht so weit zu sagen, Risiken hätten keine von der subjektiven Wahrnehmung unabhängige Realität: „Die Objektivität eines Risikos ist Produkt seiner Wahrnehmung und seiner (eben auch sachlichen) Inszenierung.“ Risiken seien „soziale Konstruktionen und Definitionen auf dem Hintergrund entsprechender Definitionsverhältnisse“ .

 Will man die Abwägung verschiedener Handlungsoptionen trotz dieser Neudefinition durch ein ökonomisches Nutzenkalkül bewerkstelligen, muss die subjektive Risikowahrnehmung bzw. das Sicherheitsgefühl der Menschen berechnet und einbezogen werden. Wird in meiner Nähe ein Kernkraftwerk gebaut und in Betrieb genommen, sinkt mein Sicherheitsgefühl – unabhängig von der Risikorealität, stattdessen bestimmt durch meine Risikowahrnehmung. Da die subjektive Risikowahrnehmung mehr von der Größe des Schadens als von seiner technischen Wahrscheinlichkeit abhängt,   ist im Fall der Kernkraft die Risikowahrnehmung sehr hoch und von Expertenmeinungen nicht so sehr beeinflusst. Deshalb sind Argumente unzulässig, die aufgrund eines „objektiv geringeren“ Risikos eines nuklearen Unfalls im Vergleich beispielsweise gegenüber dem Autoverkehr die Kernenergie rechtfertigen. Ab einem bestimmten Schadensausmaß und einer gewissen Unsicherheit kann man die Formel Wahrscheinlichkeit mal Schadensgröße nicht vorbehaltlos anwenden.

Die Vorgehensweise der Preisgebung subjektiver Risiken ist die folgende: Ich werde vor der Inbetriebnahme gefragt, wie viel Geld ich für meine Zustimmung zum Betrieb des Kraftwerks und für die Garantie meinen Wohnort nicht zu wechseln verlangen würde. Dieser Betrag wird Konsumentenrente genannt und ist der Preis der verlorenen Sicherheit und damit auch eine Quantifizierung meiner Risikowahrnehmung. Mit dieser Methode wird Sicherheit „wie Wasser und Strom zu einem (…) Verbrauchsgut.“  Die Vorteile, die eine bestimmte Technologie kurzfristig und mit ziemlicher Sicherheit mit sich bringt, lassen sich nun mit ebenso kurzfristigen und sicheren Nachteilen verrechnen, und zwar mit dem Preis des Verlustes an Sicherheitsempfinden der Menschen. Verglichen werden kann nun der Nutzen der Anwendung der Technologie mit dem Nutzen des Verzichts auf die Technologie, welcher im nicht erfolgten Verlust an Sicherheitsempfinden besteht. Dieses neue ökonomische Modell eines Risikokalküls zeichnet aus, dass es auch in Situationen der Ungewissheit anwendbar ist.

Doch versagt ein solches Kalkül dann, wenn Menschen unter keinen Umständen bereit sind ein gewisses Risiko einzugehen. Wie auch viele Menschen sich nicht einmal mit der Aussicht auf eine unermessliche hohe Geldmenge auf ein russisches Roulette einlassen würden, gibt es auch welche, für die keine Konsumentenrente angemessen erscheint, das Risiko einer nuklearen Katastrophe auf sich zu nehmen. Bei den meisten anderen, die für einen bestimmten Betrag bereit zur Aufnahme des Risikos wären, liegt dieser Betrag jedoch im Durchschnitt so hoch, dass der Nutzen der Kernenergie (der gewonnene Wohlstand) diese Risikowahrnehmung nicht aufwiegt. Diesem Trend versuchen die Energieunternehmen durch teure Marketing-Kampagnen entgegenzuwirken.
Ein Super-GAU, d.h. ein Unfall jenseits des von den Sicherheitssystemen beherrschbaren größten anzunehmenden Unfalls, würde – je nach Standort und Wetterverhältnissen –  zu einem volkswirtschaftlichen Schaden von mindestens fünf Billionen Euro führen.  Dies entspricht einem Mehrfachen des deutschen Bruttoinlandsproduktes und würde deshalb zu einem Zusammenbruch der Volkswirtschaft führen. Auch ein Unfall in einem anderen Land hätte weit reichende Folgen: Zum einen würde die Weltkonjunktur für einige Zeit zurückgehen und dadurch auch für Deutschland Wohlstand verloren gehen. Außerdem würde ein solcher Unfall zu einem rapiden Umdenken in der Bevölkerung und zu dem Wunsch nach einem raschen Atomausstieg führen. Ist eine Energiewirtschaft auf ein solches Szenario nicht eingestellt (man stelle sich dies in Frankreich vor, wo drei Viertel des Stroms aus Kernenergie gewonnen wird), ist eine Umstellung nur unter hohen Kosten und einer starken Importabhängigkeit möglich. Oft wird diese Möglichkeit als Argument gegen die scheinbare Erhöhung der Versorgungssicherheit durch Kernenergie angebracht.
 Aufgrund der hohen Unsicherheit von Unfallprognosen bei Kernkraftwerken und aufgrund der hohen Schadensgröße, die zu einer starken Diskrepanz von Risikorealität und -wahrnehmung führt, darf eine demokratische Regierung die Wirtschaftlichkeit der Atomkraft nicht ohne Einbeziehung der Risikowahrnehmung ihrer Bürger berechnen. Da die subjektive Wahrnehmung starken und schnellen Schwankungen unterliegen kann, sind Investitionen in die Kernenergie selbst bei temporärer gesellschaftlicher Akzeptanz äußerst riskant.

 

Pfadabhängigkeit

Unter Ausblendung des Problems des Risikos, des Atommülls und weiterer externer Kosten soll ein wichtiges wirtschaftliches Argument gegen die Atomkraft, nämlich die Pfadabhängigkeit, verdeutlicht werden. Wir haben heute mit begrenzten finanziellen Mitteln verschiedene Handlungsoptionen. Jeder Euro, den wir in die Forschung oder den Ausbau eines Energieträgers einbringen, fehlt bei der Investition in andere Energieträger. Nun nehmen wir drei Szenarien an: A) Verstärkte Konzentration auf Kernenergie: Laufzeitverlängerungen und Investition in vorhandene Anlagen, Verbesserung der Sicherheitsstandards, Investitionen in die Forschung bspw. für eventuelle Lösungen des Endlagerproblems, verstärkter Uraneinkauf und Aufbereitung, evtl. Neubau von Anlagen. B) Verstärkte Investition in fossile Großkraftwerke (v.a. Kohle), dadurch wie bei Szenario A Aufrechterhaltung der zentral ausgerichteten Netzstruktur, Investition in Techniken zur CO2-Reduzierung oder Einspeicherung bei Kohlekraftwerken. C) Radikale Umstellung des Energienetzes auf eine dezentrale Struktur, Investition in Speichertechnologien, starke Förderung der erneuerbaren Energien durch verbesserte Einspeisevergütungen und Subventionen, Förderung von Kraft-Wärme-Kopplung und vor allem von Effizienztechnologien und Einsparmöglichkeiten.

Nun ist es wahrscheinlich, dass Weg A zu den geringsten Energiekosten und damit zur besten Wirtschaftsleistung innerhalb der nächsten Jahre führt.  Da jedoch in einigen Jahrzehnten die Urankosten mit Sicherheit stark ansteigen werden und gleichzeitig die CO2-Bilanz von Atomstrom wie oben gezeigt immer schlechter wird, möglicherweise auch die externen Kosten zunehmend auf den Strompreis umgelegt werden, wird früher oder später der Zeitpunkt kommen, ab dem erneuerbare Energie weitaus wirtschaftlicher erzeugt werden könnte als Atomenergie. Ein anderes mögliches Szenario wurde oben beschrieben, nämlich dass durch einen Unfall im In- oder Ausland die Kernkraft plötzlich politisch nicht mehr tragbar ist und dadurch ein rascher Atomausstieg notwendig wird. Wenn zu diesem Zeitpunkt jedoch die Netze nicht auf Dezentralität optimiert, Technologien nicht so weit wie möglich erforscht und entsprechende Anlagen weder geplant noch gebaut sind, vergeht viel Zeit, in der im Vergleich zu den Szenarien B und C ein hoher Verlust eingefahren wird.

Weg B macht uns die Einhaltung der Klimaziele unmöglich. Alle Kernenergie durch Kohle zu ersetzen und dabei 40% CO2 einzusparen erscheint selbst mit Energieeinsparmaßnahmen äußerst unrealistisch. 80% Kohlenstoffdioxid bis 2050 einzusparen, wie es die angestrebte Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf 2 Grad erforderlich macht, wird nur möglich sein, indem fossile Energieträger auf ein absolutes Minimum zurückgefahren werden. Eine viel versprechende Option ist jedoch die Filterung des Kohlenstoffdioxids aus den Abgasen und eine anschließende Ablagerung.   Obwohl diese Technologie ein großes Potential zum Klimaschutz  aufweist, kann sie aus drei Gründen nicht in die heutige Entscheidungsfindung der Energiepolitik einbezogen werden: Erstens liegen die Kosten laut IEA mit 50 bis 100 US-$ pro abgeschiedener Tonne weit über den Kosten von anderen Einsparmöglichkeiten; zweitens ist eine ausreichende unterirdische Lagerkapazität noch ungewiss; drittens kann das sequestrierte CO2 wieder entweichen, wodurch das Problem auf zukünftige Generationen verlagert werden würde.
Die globale Einführung von in der Menge immer stärker begrenzten Emissionszertifikaten, die angesichts der knappen Ressourcen stark ansteigenden Preise und die Kosten der CO2-Sequestrierung werden den Preis des Kohlestroms so stark die Höhe treiben, dass jeder jetzt investierte Euro in die Verbesserung und den Ausbau der Kohlekraft nur etwa zwei Jahrzehnte Nutzen bringen würde, für die Zeit danach jedoch jede Investition in nachhaltige Energieträger sinnvoller gewesen wäre.

Weg C führt durch starke Förderung erneuerbarer Energien dazu, dass im Vergleich Kohle und Uran in absehbarer Zeit unwirtschaftlich werden.  Das Netz wird weiter dezentralisiert; Investitionen in Kraft-Wärme-Kopplung und Effizienzverbesserung amortisieren sich in kürzester Zeit. Wegen hoher EEG-Kosten (Einspeisevergütung durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz) und weiteren Subventionen wird zunächst der Strompreis stark ansteigen und die Wirtschaftsleistung zurückgehen. Da jedoch durch das Vorhandensein der Anlagen, des ausreichenden Netzausbaus und durch den im Vergleich zu den Alternativszenarien viel rascheren Fortschritt im Wirkungsgrad der Energiegewinnung der Zeitpunkt, an dem erneuerbare Energien real wirtschaftlicher werden als fossile und atomare Energieträger, viel früher eintreten wird, weist Weg C langfristig enorme volkswirtschaftliche Vorteile gegenüber den Wegen A und B auf. Darüber hinaus wird die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft durch die Aufrechterhaltung der Position als Marktführer im Bereich der erneuerbaren Energien gestärkt werden.
Wir stehen, ähnlich wie beim Klimawandel, vor der Frage, ob wir uns heutige ökonomische Vorteile um den Preis zukünftiger Nachteile erkaufen wollen. Die Frage der Inkaufnahme der erwähnten Risiken lassen sich in folgender Frage zusammenfassen: Wie viel aktuellen Wohlstand sind wir bereit aufzugeben, um ein bestimmtes Sicherheitsgefühl zu erlangen? Die Problematik des Klimawandels kann man wie folgt umformulieren und auf die Themen Atommüll und Pfadabhängigkeit anwenden: Wie viel aktuellen Wohlstand sind wir bereit aufzugeben, um uns und unseren Nachfahren zukünftigen Wohlstand zu garantieren?  Die Faktoren aktueller Wohlstand, zukünftiger Wohlstand und aktuelles Sicherheitsgefühl sind so voneinander abhängig, dass eine Verstärkung eines Faktors immer zu Lasten von mindestens einem anderen wirkt.

 

5. Ethische Implikationen

Wir stehen vor der schwierigen Aufgabe, aktuellen und zukünftigen Wohlstand miteinander aufzurechnen. Dieses Problem ist uns auch von der Diskussion um Staatsschulden bekannt. Das Sicherheitsgefühl hingegen lässt sich mit der oben beschriebenen Methode der Konsumentenrente weitgehend als Wohlstandsfaktor quantifizieren.
 Die ökonomische Abwägung setzt aber voraus, dass Nutzen und Risiko von Atomenergie ökonomisch abwägbar sind, indem man sie quantifiziert. Neben dem Problem der Abhängigkeit von Prognosen und der sich daraus ergebenden Unsicherheit der Folgen, versagt ein solches Kalkül auch bei Situationen großer Ungewissheit und mit hohem möglichem Schaden. Gründe und Beispiele für dieses Versagen sollen in diesem Kapitel aufgezeigt werden.

 Unvergleichbarkeit existentieller und konventioneller Risiken
 Es gibt Güter, denen kein bzw. nur ein unendlich hoher Preis zugeschrieben werden kann, da die meisten Personen sie gegen kein Geld der Welt eintauschen würden. Zu diesen Gütern gehören die körperliche Unversehrtheit, Meinungs- und Religionsfreiheit und eine als menschenwürdig erachtete Behandlung. Hier versagt das ökonomische Modell der Preisgebung; ein unendlich hoher Preis eines Gutes würde selbst bei einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit des Verlustes den Nutzen bei Nicht-Verlust und damit das Risiko unendlich hoch machen. Dies widerspricht der gelebten Praxis: Bei der Teilnahme am Autoverkehr und bei vielen anderen Anlässen setzt man sich einem Unfall- und Todesrisiko aus – wenn das eigene Leben einen unendlich hohen Wert haben sollte, dürfte man selbst bei sehr geringem Risiko im Normalfall nicht am Straßenverkehr teilnehmen, da jeder dadurch gebrachte nicht-existentielle Nutzen nur einem endlich hohen Preis entspricht. Wenn man die Entscheidung für die Teilnahme am Straßenverkehr und am gesamten öffentlichen Leben nicht als irrational ansehen möchte, muss man zugeben, dass selbst existentielle Risiken in ein subjektives Kalkül mit einbezogen werden. Da solchen Risiken in einem ökonomischen Modell wegen des Versagens der beschriebenen Methode trotzdem kein Preis zuerkannt werden kann, sind sie zu konventionellen Risiken inkommensurabel.

Versagen des Prinzips der Kompensierbarkeit
 Versicherungen basieren auf dem Prinzip der Kompensierbarkeit. Mein Auto versichere ich, damit ich nach einem Unfall in etwa so viel Geld bekomme, dass ich mir damit ein gleiches bzw. zumindest sehr ähnliches Gefährt erwerben kann. Jedoch versagt die Kompensierbarkeit bei vielen nicht ersetzbaren Gütern: Menschen, Erlebnissen, Gesundheit, Heimat, künstlerischen Einzelstücken, Gegenständen mit biographisch ideellem Wert usw. Allen diesen nicht-versicherbaren Gütern, deren Nutzengewinn nicht durch andere Güter erzielt werden kann, müsste ein unendlich hoher Preis zuerkannt werden.

Unterscheidung zwischen Entscheidendem und Betroffenem
Aus der durch seine Autonomie begründeten Würde des Menschen ist ein Selbstbestimmungsrecht ableitbar in Hinblick darauf, welche Risiken er einzugehen gewillt ist. „Traditionelle Risikooptimierung macht keinen Unterschied zwischen der entscheidenden Person und den von dieser Entscheidung Betroffenen.“  Tatsächlich macht es einen großen Unterschied, ob ich mir ein bestimmtes Risiko auferlege, weil der hervorgebrachte Nutzen für mich stärker ins Gewicht fällt, oder ob die Entscheidung von anderen für mich getroffen wird. Raucher entscheiden sich für das Rauchen, weil der momentane Nutzen, der im Glücksgefühl, in der Gemeinschaft und im Nichtkonfrontiertwerden mit Entzugserscheinungen besteht, ihrer Abwägung zufolge höher ist als der mögliche Nutzen, der ihnen durch einen möglichen vorzeitigen Tod entgehen könnte. Passivraucher hingegen sind von der Entscheidung des Rauchers betroffen, meist ohne der Risikoaussetzung zugestimmt zu haben.
Risiken sind also dann in ethischer Hinsicht problematisch, wenn sie ohne die Zustimmung der Betroffenen auferlegt werden; sie sind – rationale Entscheidungsträger vorausgesetzt – ethisch nicht relevant, wenn alle Betroffenen zustimmen. Dieser Unterschied wird in ökonomischen Risikokalkülen nur dann berücksichtigt, wenn die Risikoaussetzung durch Geld kompensierbar ist, was, wie oben gezeigt, nicht immer der Fall ist.

Aus der Nutzung der Kernenergie folgen ökonomisch nicht aufrechenbare Verletzungen des Selbstbestimmungsrechtes der Menschen. Die Ausbreitung von radioaktivem Niederschlag wird durch Staatsgrenzen nicht aufgehalten. Ein nuklearer Unfall fügt auch den Bürgern von Staaten Schaden zu, welche weder der Nutzung der Kernenergie in demokratischen Verfahren zugestimmt haben noch von deren kurzfristigen ökonomischen Vorteilen profitieren. Kernenergie lässt sich folglich mit dem (in demokratischen Strukturen verwirklichten) Selbstbestimmungsrecht der Bürger nur im internationalen Konsens vereinbaren. Ein Atomkraftwerk in einem Land darf folglich nur dann genehmigt werden, wenn alle Staaten im Umkreis von mehreren Hundert Kilometern der Risikoaussetzung in demokratischen Verfahren zugestimmt haben. Denn, um ein vermeintliches Argument der Kernenergiebefürworter heranzuziehen, warum sollte man in Deutschland auf „sichere“ Atomkraftwerke verzichten, wenn in Frankreich und Tschechien direkt an der Grenze „marode alte“ Meiler anzutreffen sind?

 Ökonomisch ist auch Generationengerechtigkeit, wie sie im 2. Kapitel angeführt wurde, nur global und durch Internalisierung aller zukünftigen Kosten in die reale Preisgestaltung verwirklichbar. Um den Klimawandel zu bekämpfen und gleichzeitig die weltweite soziale Gerechtigkeit zu fördern, werden globale Pro-Kopf-Emissionsrechte vorgeschlagen, die auf dem Markt gehandelt werden können.  In Bezug auf die Nutzung der Kernenergie ist folgender Weg denkbar: Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA wirkt als Versicherer für alle vorhandenen Kernkraftwerke und ist außerdem für die Entsorgung von Atommüll zuständig. Jeder Staat ist einerseits verpflichtet, je nach Anzahl der betriebenen Atomkraftwerke regelmäßige Zahlungen zu leisten (die er auf den Preis des Atomstroms umlegen kann); außerdem muss er vertraglich zusichern, dass er bei jedem nuklearen Unfall, unabhängig davon, ob er im eigenen oder in einem fremden Land passiert, den ihm zugewiesenen Teil der Schadenskosten trägt. Die IAEA übernimmt dafür sämtliche Kosten für die Forschung und für die Lagerung von nuklearem Müll. Durch diese Art der Einbeziehung externer Kosten würde Atomstrom sehr viel teurer werden. Die Erzeugungskosten einer direkten Risikoumlage werden zwar nicht erreicht, da die Nationalstaaten weiterhin haften. Eine Zahlungspflicht tritt nach dieser Regelung innerhalb des nächsten Jahrhunderts mit äußerst hoher Wahrscheinlichkeit ein; nach DRS-B wird durchschnittlich innerhalb von 75-200 Jahre ein schwerer Unfall eintreten, wobei das Risiko in ungewissem Maße durch die Möglichkeit von nicht-technischen Auslösern wie Terrorangriffen und von menschlichem Versagen erhöht ist. Für Deutschland würde solch ein Unfall ungefähr zu Kosten von 5 Billionen Euro durch 444 Reaktoren weltweit gleich 11 Mrd Euro pro Reaktor führen. Infolge dieses Haftungszwanges ist es wahrscheinlich, dass sich viele Staaten gegen die Nutzung der Atomenergie entscheiden würden.

 Ein den Anforderungen des drohenden Klimawandels angepasster weltweiter Emissionshandel mit CO2-Zertifikaten würde bewirken, dass Kohle und andere fossile Energieträger langfristig kaum mehr wirtschaftlich nutzbar wären. Ähnlich würde das eben beschriebene Vorgehen dazu führen, dass die Erzeugungskosten von Atomstrom bedeutend teurer würden und außerdem die meisten Staaten nicht mehr bereit wären, die nunmehr hohe Wahrscheinlichkeit eines Unfalls und entsprechende Schadenskosten zu tragen und deshalb aus der Kernenergie ausstiegen.

 

6. Schlussfolgerungen

Die Nutzung der Kernenergie ist zweifelsfrei ein wichtiger Faktor zum Erhalt des aktuellen Wohlstands. Eine schnelle Abschaltung der im Moment betriebenen Reaktoren würde zu höheren Energiekosten und dadurch zu einer Minderung der Wirtschaftsleistung führen. Unter der Voraussetzung der angemessenen Bekämpfung des Klimawandels gibt es für die zweite Hälfte des Jahrhunderts jedoch die begründete Annahme, dass alle Mittel, die wir heute in fossile und atomare Energieprojekte anstatt in die Stärkung erneuerbarer Energien investieren, zu Wohlstandseinbußen (im Vergleich zu alternativen Szenarien) führen werden. Des Weiteren hinterlassen wir den kommenden Generationen hohe Kosten durch die Aufgabe der Aufbewahrung hochradioaktiver Abfälle. Die Pflicht zur Generationengerechtigkeit fordert von uns, unseren aktuellen Wohlstand soweit einzuschränken, damit wir nicht mehr auf Kosten unserer Kinder leben. Diese Maßnahme kann in einer Demokratie jedoch politisch schwer umgesetzt werden, da jede Regierung, die dies von den Bürgern verlangt, sehr schnell abgewählt werden würde. Vorraussetzung ist ein radikales Umdenken der Bürger: Die Einbeziehung der Rechte zukünftig lebender Menschen in das jetzige Bewusstsein und die Abkopplung der angestrebten Lebensqualität von materiellem Wohlstand.
 Neben den Rechten kommender Generationen verletzt die Nutzung der Kernenergie, so wie sie heute vollzogen wird, auch die Rechte der zurzeit lebenden Menschen. Eine ethisch legitimierte Nutzung ist nur in internationalen Strukturen und mit echter demokratischer Legitimation seitens aller Betroffenen denkbar; außerdem muss eine Lösung für die Übernahme der Haftung für Unfälle oder Anschläge gefunden werden. So lange diese Strukturen nicht geschaffen sind, widerspricht die Nutzung der Atomkraft der Menschenwürde und darf nicht mit ökonomischen Faktoren aufgewogen werden. Die Würde des Menschen, zu der auch das Recht gehört, zumindest in demokratischen Verfahren zu bestimmen, welche Risiken man um welchen Nutzen willen bereit ist einzugehen, ist nicht relativierbar. (Abb. 3)

 Die Debatte um die Kernenergie wird meist ideologisch und emotional geführt. Kein Energieträger ist jedoch allein für sich, sondern nur in politischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen bewertbar. Ökonomisch abgewogen werden kann zwischen der Wirtschaftlichkeit von verschiedenen Energieszenarien im Vergleich, wobei die Interessen kommender Generationen ebenso miteinbezogen werden müssen. Selbst wenn ein bestimmtes Szenario ökonomisch vorteilhaft erscheint und den Menschen mehr Wohlstand in Aussicht stellt, muss dieses in bestimmte Rahmenbedingungen eingebettet sein, welche sowohl eine gerechte Verteilung der Risiken auf die jeweiligen Nutznießer als auch die Zustimmung aller Betroffener zur Risikoaussetzung verlangen. Im Fall der Kernenergie ist es nahe liegend, dass die Umsetzung aller ethischen Rahmenbedingungen zur Unwirtschaftlichkeit des Energieträgers im Vergleich zu allen übrigen Alternativen führen wird.

 

 


Literatur

BECK, Ulrich, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Regensburg 2007.

DEUTSCHES ATOMFORUM e.V., Kernenergie in Deutschland. Jahresbericht 2005, Berlin 2006.

DEUTSCHE PHYSIKALISCHE GESELLSCHAFT, Klimaschutz und Energieversorgung in Deutschland 1990-2020, Bad Honnef, 2005.

EUROSOLAR / INTERNATIONAL PHYSICIANS FOR THE PREVENTION OF NUCLEAR WAR, Fakten zur Atomenergie. Bonn/Berlin, September 2004.

EWERS, Hans Jürgen / RENNINGS, Klaus, Die Kosten möglicher Schäden durch einen sogenannten Super-Gau - monetäre Bewertung und umweltpolitische Implikationen, Zeitschrift für angewandte Umweltforschung (ZAU) Sonderheft 3/1992, 155-167.

HENNICKE, Peter / MÜLLER, Michael, Weltmacht Energie. Herausforderung für Demokratie und Wohlstand, Stuttgart 22005.

KANT, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Göttingen 2004.            

LOVINS, Amory, Nuclear power: economics and climate-protection potential, 2006, http://www.rmi.org/images/other/Energy/E05-14_NukePwrEcon.pdf.

MASUCH, Anna (Hrsg. und Mitverfasserin), Atomkraftwerke. Unsicher und grundrechtswidrig. Ein Bericht über Kernschmelzgefahr und Grundrechtsbeeinträchtigungen, Hannover 1998.

NIDA-RÜMELIN, Julian, Ethik des Risikos, in: DERS., Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, Stuttgart 1996, 806-830.

ROSENKRANZ, Gerd, Mythos Atomkraft. Über die Risiken und Aussichten der Atomenergie, Berlin 2006.

ROTH, Eike, Globale Umweltprobleme. Ursachen und Lösungsansätze, München 2004.

THOMAS, Steve: Die Wirtschaftlichkeit der Atomenergie, in: MATTHES, Felix Christian (Hg.), Mythos Atomkraft. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2006.

 

 

Fußnoten

   Wohlstand wird hier verstanden als eine ökonomische Quantifizierung von Kaufkraft, Lebenserwartung und Bildung, wie sie im Human Development Index der UN ausgedrückt wird. Diese Definition ist defizitär, doch ein Kompromiss aus Operationalisierbarkeit und Sachangemessenheit.
  Langfristig haben wir die Pflicht, die vorhandenen fossilen Ressourcen auf der Erde so einzusetzen, dass wir damit nachhaltige Technologien entwickeln, die es kommenden Generationen ermöglichen, ihren gesamten Energieverbrauch aus erneuerbaren Quellen zu bestreiten.
  Ein regelmäßiger Lottospieler darf aus der Wahrscheinlichkeit und der Höhe der möglichen Gewinne, obwohl dies dem mathematischen Durchschnitt entspräche, nicht auf einen durchschnittlichen Gewinn von etwa 20 Euro pro Jahr schließen.
  Dies entspricht auch der subjektiven Wahrnehmung von Risiken. Vgl. Nida-Rümelin 1996, 812-815.
  Gegen teure Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels könnte beispielsweise angebracht werden, in einigen Jahrzehnten hätten wir eine Technologie entwickelt, die Kohlenstoffdioxid unter minimalem Energieaufwand aus der Luft filtern kann. Ein solches In-The-Long-Run-Argument ersetzt heute die nicht mehr tragfähige Leugnung des durch Menschen verursachten Klimawandels durch eine Leugnung der Notwendigkeit von Ausstoß reduzierenden Maßnahmen.
  Als Proliferation wird die Weitergabe von Massenvernichtungswaffen oder der zur Herstellung notwendigen Technik oder Materialien an Staaten bezeichnet, denen entsprechende Technologien noch nicht zur Verfügung stehen.
  Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung der Universität Stuttgart (2005) und Financial Times Deutschland (20.07.2005).
  Eurosolar/IPPNW 2004 sowie Thomas 2006.
  Nach einer Studie des Prognos-Instituts Basel im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums im Jahr 1992 würde ein Super-GAU im KKW Biblis A Folgekosten von über 5 Billionen Euro verursachen.
  Eurosolar/IPPNW 2004.
  Ein Allmendegut ist ein Gut, das nicht wie privates Eigentum der Ausschließbarkeit der Nutzung unterlegen ist und um das eine Rivalität zwischen den Nutzern herrscht, da es nur in begrenzter Menge verfügbar ist.
  Die Kosten von Windenergie beliefen sich 2005 auf durchschnittlich 9 c/kWh, Wasserkraft auf 5,5 c/kwH, Biomasse 14 c/kWh, Solarstrom 55 c/kWh (Financial Times Deutschland, 20.07.2005).
  Deutsches Atomforum e.V., Gute Gründe für die Kernenergie, 2007, 3.
  Auf einen Mittelwert von 60g CO2 pro Kilowattstunde (KWh) Strom kommt eine Studie der Universität Sydney in Australien (2006). Die Spannweite der Werte: 10 bis 130 g pro KWh. Das deutsche Öko-Institut errechnete 1997 CO2-Werte zwischen 34 und 160 g/KWh. Der holländische Wissenschaftler Jan Willem Storm van Leeuwen bezifferte 2005 den CO2-Ausstoss auf 90 bis 140 g/KWh.
  Vgl. Bossel, Ulf, Das Märchen vom CO2-freien Atomstrom, in: Solarzeitalter 1/2007, März 2007.
  Stand 2005. Quelle: Dt. Atomforum e.V., Kernenergie – Aktuell 2006.
  . In einer Regierungserklärung zur Klimapolitik wurde am 24. April 2007 von Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) das Ziel gesetzt, bis 2020 die CO2-Emissionen Deutschlands auf 737 Mio Tonnen zu verringern (26,8% weniger als 2006).
  Lovins 2006, 15.
  Vgl. McKinsey&Company, Kosten und Potenziale der Vermeidung von Treibhausgasemissionen in Deutschland, 2007.
  Jede Maßnahme zur CO2-Verringerung verursacht entweder hohe Kosten (z.B. teure Filter, Photovoltaik-Anlagen statt Kohlekraftwerke) oder beinhaltet Verzicht (z.B. weniger Autofahren, weniger Fliegen, regionaler Konsum).
  Dreiecksverhältnis: Jeweils unter Beibehaltung von einer der drei Größen führt eine Vergrößerung der zweiten zu einer Verkleinerung der dritten.
  Vgl. Masuch, 105.
  Stand Anfang 2006. Vgl. Deutsches Atomforum e.V., 6.
  Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit BMU 2002,2003,2004.
  Beck 2007, 33.
  Ebd., 66.
  Vgl. Nida-Rümelin 1996, 812f.
  Beck 2007, 28.
  DRS-B (1989); Prognos-Institut (1992).
  Dies ist für das Betreiben vorhandener Anlagen definitiv richtig. Energie aus neu gebauten KKWs wird wie oben gezeigt aber teurer sein, jedoch wahrscheinlich zunächst noch etwas günstiger als eine mögliche CO2-Absonderung oder als die massive Subventionierung erneuerbarer Energien.
  Wird als CCS-Prozess bezeichnet: Carbon Dioxide Capture and Storage
  Da die in der Welt vorhandene Kohle auf jeden Fall verbrannt wird (wenn auch nicht von uns), könnte die CCS-Technologie noch sehr nützlich sein. Doch darf aufgrund der Ungewissheit der Anwendbarkeit die heutige Energiepolitik nicht an einem solchen optimistischen Szenario ausgerichtet werden.
  Das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie verglich 2006 in einer Studie für das Europäische Parlament mögliche Energieszenarien bis 2030 und prognostizierte die geringsten Energiekosten für das RE-Szenario, welches einen Ausbau erneuerbarer Energien auf über 30% und eine Steigerung der Energieeffizienz um 75 Prozent vorsieht.
  Nida-Rümelin 1996, 819.
  Z.B. Nach einem Konzept von Carl Friedrich von Weizsäcker.