Christliche Werte in der Politik Drucken E-Mail
Montag, 30. Januar 2012 um 16:43

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 Auch im 21. Jahrhundert zeigt sich in vielen politisch-religiösen Konflikten, dass religiöse Wertvorstellungen oft nicht mit denen unserer „aufgeklärten“ Gesellschaft übereinstimmen. Wie sollen wir damit umgehen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zuerst das Verhältnis von Religion und Ethik – also auch das von Glaube und Vernunft – klären.

ÖkologiePolitik 153 (2012), S. 24 - 26.

 

Angela Merkel sagte im vergangenen Jahr bei einer Rede: „Wir fühlen uns dem christlichen Menschenbild verbunden, das ist das, was uns ausmacht.” Außerdem meinte sie, wer das nicht akzeptiere, „der ist bei uns fehl am Platz“. Doch gibt es überhaupt eine einheitliche Vorstellung von diesem Menschenbild? Wodurch unterscheidet es sich vom Menschenbild der Aufklärung, vom Humanismus? Ist die Rede von christlich-abendländischen Wertvorstellungen, vom christlichen Menschenbild und von der religiösen Prägung unserer Kultur nur eine politische Floskel um Wählerstimmen einzufangen?

Merkels Rede wurde von Laizisten, Religionskritikern und Atheisten äußerst negativ  bewertet. Gegen den Angriff, sie würde die Trennung von Staat und Kirche aufheben, muss man die Bundeskanzlerin aber verteidigen: Sie sprach ja nicht vom christlichen Glauben, sondern vom christlichen Menschenbild.Doch trifft ihre These wirklich zu? Selbst, wenn man von den negativen Seiten der christlichen Geschichte absieht und die Zehn Gebote oder die Lehren Jesu in den Vordergrund stellt, erkennt man einige Differenzen zwischen den als Menschenrechte verkündeten Normen und manch christlichen Lehren.

Dabei haben die Menschenrechte, auch wenn diese später teilweise gegen die Macht der Kirche durchgesetzt werden mussten, eindeutig christliche Wurzeln und sind schon im mittelalterlichen Naturrechtsgedanken angelegt. Naturrechte sind rein durch die Vernunft erkennbare Rechte und unabhängig von Religionszugehörigkeit oder göttlicher Offenbarung einsichtig und verpflichtend. Diese naturrechtliche Tradition hatte auch politische Konsequenzen, denkt man nur an die päpstliche Bulle Sublimis Deus aus dem Jahr 1537, die die Versklavung der indianischen Ureinwohner von Amerika und prinzipiell aller Menschen verbot. Dabei verteidigte Papst Paul III auch das Recht aller Menschen auf Freiheit und Eigentum. Der Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas verwendete zu dieser Zeit den Begriff Menschenrechte in seinem Einsatz für die Rechte der Indios in Peru. Die auch die in der Kirche oft gebilligte Unterdrückung und Sklaverei schrieb Las Casas dem Einfluss der griechischen Philosophie zu: „Wenn Aristoteles behauptet hatte, es gebe Sklaven von Natur aus, umso schlimmer für die Philosophie dieses Heiden!“ Jeder Mensch habe das Recht, den christlichen Glauben kennenzulernen und sich frei dafür zu entscheiden; daraus folgen, so argumentierte Las Casas, grundlegende Menschenrechte. Obwohl diese Rechte heute als selbstverständlich gelten, waren sie damals revolutionär und nur schwer gegen die politische Elite durchsetzbar, die ja von der Sklaverei und Kolonialisierung enorm profitierte. Insgesamt jedoch, so der Politikwissenschaftler Henning Ottmann, kann man Las Casas als einen „Vordenker der Rechte der Menschen und der Völker“ bezeichnen.
 

Die Begründung von Normen


Wie begründet man aber nun ethische Normen? Ein Verweis auf ein bestimmtes Menschenbild ist dafür sicher nicht ausreichend. Denn dann stellt sich die Frage, wie denn ein bestimmtes Menschenbild begründet ist. Worin sind Werte und daraus abgeleitete Normen letztlich begründet? Vereinfacht dargestellt gibt es auf diese Frage drei mögliche Antworten.

  •     Möglichkeit 1: Gott hat die Normen erschaffen und kann sie beliebig ändern.
  •     Möglichkeit 2: Sie sind vernünftig und, weil die Vernunft objektiv ist, universell gültig und für jeden Menschen einsichtig.
  •     Möglichkeit 3: Wir geben uns unsere Normen selbst bzw. sie haben sich durch die Evolution entwickelt.


Die letztgenannte Möglichkeit ist – vor allem im naturwissenschaftlichen Diskurs – heute die am meisten verbreitete Auffassung. Vieles spricht dafür: Die Veränderung der  Wertvorstellungen und gesellschaftlicher Normen im Verlauf der Zeit, die Verschiedenheit der Wertvorstellungen zwischen den Kulturen, die evolutionären Vorteile von  altruistischen Handlungen innerhalb einer abgegrenzten Gesellschaft. Dagegen spricht aber die Bedeutung des Wortes „Norm“. Angenommen, ein Mensch oder eine Gesellschaft kann sich seine bzw. ihre Regeln selbst setzen und beliebig verändern, so muss sich niemand gegen den eigenen Willen einer Norm unterwerfen.Ein Mensch kann vernünftig einsehen, dass es für die Gesellschaft am besten wäre, wenn er die Norm einhielte; aber diese Einsicht würde ihn nicht automatisch dazu verleiten auch das zu tun, was am besten für die Gesellschaft wäre, vor allem dann, wenn er persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen hätte.

[Wenn man also der Auffassung ist, Normen sind subjektiv und nur vom Menschen geschaffene Konstrukte, dann darf man ei-gentlich nicht mehr von Nor-men reden, sondern nur noch von „gesellschaftlichen Moralvorstellungen“ oder Regeln. Wenn ich die Regeln breche, ist das allein meine Verantwortung; ich müsste dabei natürlich die Sanktionen der Gesellschaft annehmen, aber wenn der Staat nicht herausfindet, dass ich meine Steuern hinterzogen,  jemanden gefoltert oder ermordet habe, dann wäre die Tat an sich weder gut noch schlecht. Der Mensch ist auf seinen eigenen Vorteil bedacht, und selbst jede Nettigkeit gegenüber anderen ist darauf zurückzuführen: Ich bin freundlich zu anderen, damit sie auch mir gegenüber freundlich sind. Ich begehe keine Straftaten, weil ich nicht ins Gefängnis kommen will. Ich akzeptiere die Menschenrechte, weil ich auch diese Rechte für mich in Anspruch nehmen möchte.]

Würde eine solche subjektive Ethik demnach nicht völlig ausreichen? In einem demokratischen Staat mit guten Kontroll- und Sanktionsmöglichkeitenverhalten sich doch die meisten Menschen gesellschaftstauglich,auch wenn sie nicht an objektiveWerte oder sogar an Gott glauben. Doch dabei gibt es ein Problem: Fallen diese Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten weg, bricht Chaos aus. Man denke nur an Bürgerkriege oder auch an die bürgerkriegsähnlichen Zustände, die wir die letzten Jahre in Paris und London erlebt haben. Dort haben sich in manchen Stadtteilen Parallelgesellschaften mit eigenem Rechtssystem gebildet und Polizisten trauen sich zeitweise kaum mehr hinein. Rechte existieren in einer subjektivistischen Ethik nur so lange, wie jemand da ist, der das Recht anerkennt. Wenn ich z. B. im Iran lebe und im Einklang mit der Gesetzgebung  gefoltert werde, gäbe es kein Recht, auf das ich mich beziehen könnte, wenn ich den Folterer anschreie: „Du darfst das nicht!“

Die Menschenrechte sind also ohne Bezug auf objektive – nicht  vom Menschen konstruierte – Normen nicht begründbar. Sie sind ein „Affront gegen die Faktizität“. Wir glauben daran, dasses Rechte gibt, die so universell  sind, dass es keinen Menschen braucht, um das Recht anzuerkennen, damit es gültig ist. Wir glauben auch daran, dass diese Rechte vernünftig begründet werden können.

Wer objektive Menschenrechte  ablehnt, kann sich nicht gegen das Recht des Stärkeren aussprechen. Ein solches führt aber letztlich zu einer Ideologie, die sich an Nietzsche anlehnt  und mit dem Nationalsozialismus verwandt ist. Hitler hat sie konsequent durchgehalten: Als sich die Niederlage Deutschlands abzeichnete, sprach er den Deutschen  das Recht auf Leben ab, weil sie sich nicht als die Stärkeren erwiesen hatten.

Wenn wir die Menschenrechte aber akzeptieren, dann müssen wir auf eine der vorher  genannten Möglichkeiten 1 oder 2 ausweichen: Die Normen sind universell gültig, entweder weil sie von Gott erschaffen wurden, oder weil sie vernünftig sind unddie Vernunft selbst objektiv ist.

 

Gott, Vernunft und Moral


Wie das Verhältnis von Gott und Moral ist, wurde schon vor der Entstehung des Christentums diskutiert. Platon fragte, ob Gott etwas will, weil es gut ist, oder ob etwas gut ist, weil Gott es will. Wenn Gott durch seinen Willen allein festlegen kann, was gut ist, dann muss er uns seinen Willen auch mitteilen; durch bloßes Nachdenken kann dieser nicht  ergründet werden. Gott muss daher – entweder durch Propheten, in einer Inkarnation oder durch das individuelle Gewissen – zu jedem Menschen sprechen.

Doch alle diese Ansichten

wurden von der Religionskritik

zur Zeit der Aufklärung stark

angegriffen. Wie kann man Offenbarung

von Lügengeschichten

oder Halluzinationen unterscheiden?

Wie kann man das göttliche

Gewissen vom Freudschen Über-

Ich unterscheiden? Warum sollte

man Wunderberichten glauben,

wenn diese zur Bekräftigung

einander widersprechender Offenbarungsansprüche

in verschiedenen

Traditionen geltend

gemacht werden?

Die Vorstellung von einem

Gott, der den unwissenden Menschen

mitteilt, was gut und was

böse ist, ist trotzdem noch weit

verbreitet. Viele Menschen verschiedener

Religionen glauben,

eine bestimmte Botschaft sei von

Gott diktiert und der Mensch

müsse die enthaltenen Normen

– ohne sie hinterfragen zu dürfen

– bedingungslos annehmen

und umsetzen. Andere haben ein

blindes Vertrauen in ihr Gewissen

oder Bauchgefühl, ohne die

Folgen ihrer Handlungen wirklich

zu durchdenken und abzuwägen.

In der christlichen Tradition

wurde viel über die Rolle der

Vernunft im Glauben und in der

Ethik gestritten. Die franziskanische

Schule vertrat im 13./14.

Jahrhundert, das Gute sei vollständig

von Gottes Willen abhängig.

Durchgesetzt haben sich aber

die Anhänger des Dominikaners

Thomas von Aquin, der dafür

eintrat, dass Gott das Gute will,

eben weil es gut und vernünftig

ist. Die Vernunft selbst sei dabei

nicht Gottes Willen unterworfen,

sondern ist Teil des göttlichen

Wesens: Gott ist die Vernunft.

Gottes Allmacht geht daher nur

soweit, dass Gott nichts logisch

Widersprüchliches oder seinem

Wesen Widersprechendes

tun kann. Er kann – um ein berühmtes

Bild zu verwenden – weder

einen Stein erschaffen, der so

schwer ist, dass er ihn selbst nicht

heben kann, noch kann er durch

seine Willensentscheidung festlegen,

dass das Böse zukünftig gut

und das Gute zukünftig böse sei.

Mit einem solchen Gottesbild

sind wir nicht mehr auf eine

Offenbarung angewiesen, um

zu wissen, was gut und böse ist.

Jeder Mensch kann mithilfe seines

Verstandes die Rechte und

die Pflichten, die ihm als Mensch

von Natur aus zukommen, herausfinden.

Dass es solche autonomen

Werte gibt, und dass die

Menschenwürde zu diesen autonomen

Werten zählt, das akzeptieren

mittlerweile auch (bzw.

wieder) große Teile der christlichen

Kirche. Das Werk „Autonome

Moral und christlicher

Glaube“ des Tübinger Theologen

Alfons Auer gilt heute als Standardwerk

der Moraltheologie.

Doch hier sehen wir einen

eklatanten Widerspruch zwischen

der Gleichsetzung von

Menschenwürde mit christlichen

Werten einerseits und reflektierten

theologischen Auffassungen

andererseits. Während

die Gleichsetzung häufig von

CDU-Politikern vertreten wird,

sagt die Theorie der autonomen

Moral, dass die Inhalte der Ethik

gerade nicht im Glauben begründet

werden dürfen. Gründete

man die Normen im Glauben,

wäre der Ungläubige demnach

gar nicht zum rechten Handeln

fähig.

 

Vernünftiges Handeln und gute Taten

Es gibt folglich nicht christliche

und nicht-christliche Normen,

sondern nur vernünftige Normen.

Christliche Werte können

darüber hinausgehen, aber diesen

niemals widersprechen. Vernünftige

Normen sind die Basis,

die alle Menschen erkennen können

und denen alle Menschen

verpflichtet sind. Dazu gehören

die Menschenrechte als Abwehrrechte

des Einzelnen gegenüber

anderen Menschen oder dem

Staat und auch das Recht auf Eigentum.

Nicht eindeutig darunter

fällt jedoch, was wir heute unter

den sozialen Menschenrechten

verstehen, manchmal auch als

Menschenrechte der 2. Generation

beschrieben: Anspruchsund

Teilhaberechte, die dem

einzelnen Menschen das Recht

auf Nahrung, auf soziale Sicherheit,

auf Erholung und Freizeit,

das Recht auf Ausbildung und

Sicherheit bei Arbeitslosigkeit,

Krankheit oder Invalidität garantieren,

dazu auch das Recht

auf politische Mitbestimmung

und Teilhabe am kulturellen Leben.

Warum sollten wir fremden

Menschen helfen? Sind wir dazu

verpflichtet, einem Hungernden

Nahrung zu geben, wenn wir keine

Mitschuld an dessen Armut

tragen? Sind wir dazu verpflichtet,

uns in Vereinen und Parteien

für Mensch, Tier und Umwelt zu

engagieren, auch wenn wir dafür

persönliche Nachteile in Kauf

nehmen müssen, zum Beispiel

unser Privatleben vernachlässigen?

Solch eine Pflicht lässt sich

nicht aus den Menschenrechten

ableiten. Tatsächlich sind wir

durch unseren Lebensstil indirekt

für einen großen Teil der Armut

in der Welt mitverantwortlich;

deshalb kann man, selbst wenn

man nur die Pflicht andere nicht

zu verletzen annimmt, für eine

Pflicht zum ethischen Konsum

und sozialen Engagement argumentieren.

Doch sind wir zur Selbstlosigkeit

verpflichtet? Es scheint

eher Handlungen zu geben, die

gut sind, aber nicht verpflichtend.

Diese werden von Thomas

von Aquin als supererogatorische

Handlungen bezeichnet. Heilige

sind nicht dadurch besonders,

dass sie ihre Pflichten erfüllt haben,

während alle Nicht-Heiligen

keine guten Menschen sind, sondern

Heilige haben sowohl ihre

Pflichten erfüllt als auch viele

weitere selbstlose Werke der Liebe

vollbracht, viele sind sogar für

ihren Glauben oder für ihre Mitmenschen

in den Tod gegangen.

Wenn wir also sagen, unser

Staatswesen basiere auf dem

christlichen Menschenbild, meinen

wir, dass es nicht funktionieren

würde, wenn der Staat nur die

grundlegenden Menschenrechte

garantierte und sonst jeder einzelne

bzw. jede Familie oder jeder

Clan nur seinen eigenen Nutzen

verfolgte.

Wir kennen einen solchen Ansatz

durchaus vom starken politischen

Liberalismus, den viele

Republikaner in den Vereinigten

Staaten verwirklichen wollen:

Der Staat soll nur die Sicherheit

der Person und des Eigentums

garantieren und wirtschaftliche

Monopole verhindern. Der Sozialstaat

ist damit aber nicht vereinbar,

er ist Folge eines christlichen

Menschenbildes, er ist quasi

die institutionalisierte Nächstenliebe.

Diese Bezeichnung mögen

viele für ungerechtfertigt halten,

denkt man an die massiven Sozialeinschnitte

der Hartz-Reform

und die immer noch bestehende

Kinder- und Bildungsarmut in

Deutschland; aber wir müssen

im Auge behalten, dass nicht der

Staat die Sozialleistungen zahlt,

sondern die gesamte Gesellschaft.

In einer Demokratie, die keine

sozialen Menschenrechte garantiert,

könnten die Sozialleistungen

theoretisch immer weiter

heruntergefahren werden.

Mit sozialen Institutionen ist

die christliche Soziallehre lange

nicht erschöpft: Wenn sich in

Deutschland niemand engagieren

würde, ob in Parteien und

Gewerkschaften, in Naturschutzvereinen,

Kirchengemeinden,

Kultur- und Musikvereinen, im

freiwilligen sozialen Jahr oder im

Bundesfreiwilligendienst, dann

könnte unsere Gesellschaft nicht

stabil funktionieren.

 

Normen sind keine Glaubensinhalte

In der Theologie des 20. Jahrhunderts

wurde der Begriff der Offenbarung

völlig neu betrachtet.

Früher hat man sich vorgestellt,

Offenbarung bedeute, dass Gott

oder ein von Gott legitimierter

Engel oder Prophet direkte

Anweisungen an die Menschen

übergibt, was sie tun und was sie

lassen sollen, was gut und was

schlecht ist. Heute versteht man

– zumindest in der liberalen katholischen

und protestantischen

Theologie – darunter eher eine

Selbstmitteilung Gottes; die Bibel

selbst ist menschliches Zeugnis

der Offenbarung, die Jesus

Christus ist. Da der Mensch nach

Gottes Ebenbild geschaffen ist,

gibt die Offenbarung in Jesus

Christus also Auskunft über uns

selbst, zeigt uns, was das Wesen

des Menschen ist.

Die oft gestellte Frage „Was

würde Jesus tun?“ ist also sehr

relevant in der Frage nach dem

christlichen Menschenbild. Und

dabei gehen wir nicht davon aus,

dass Jesus von Nazareth göttliche

Eingebungen hatte, dass der Vater

dem Sohn moralische Regeln

diktiert; in diesem Fall wäre Jesus

nicht, wie das Dogma lautet, ganzer

Mensch und ganzer Gott. Um

ganz Mensch zu sein, musste Jesus

auf natürlichem Wege – und

das ist der Weg der Vernunft,

des Nachdenkens, des Abwägens

und des Schlussfolgerns, vor

dem Hintergrund der jüdischrömischen

Kultur, in der er lebte

– zu seinen Überzeugungen gelangt

sein. Jede übernatürliche

Kraft, auch bezüglich seines Wissens,

würde dazu führen, dass er

nicht mehr zu einhundert Prozent

Mensch ist, sondern eine

Art Übermensch oder ein auf der

Erde wandelnder Gott.

Obwohl immer wieder versucht

wird, für jede ethische

Frage biblische Unterstützung zu

finden, sagt das Vorbild Jesu oder

derer, die ihm nachfolgten, nichts

darüber aus, ob wir Bankenspekulation,

Abtreibung oder Präimplantationsdiagnostik

zulassen

sollten. Diese Fragen müssen

wir durch vernünftige Abwägung

selbst klären. Das Vorbild Jesu

sagt aber, dass, wenn wir, unter

Einbeziehung der Folgen für alle

lebenden und zukünftigen Menschen,

die vernünftige Antwort

gefunden haben, wir diese auch

umsetzen und dafür einstehen,

selbst wenn es uns persönliche

Nachteile bringt. Bei Jesus war

dieser persönliche Nachteil der

Tod am Kreuz; heute sind die

Nachteile zum Glück viel geringer.

Eine gerechte Weltgesellschaft

lässt sich nur dann erreichen,

wenn wir in den westlichen Ländern

massiv Konsumverzicht

üben, was die ÖDP seit langem

betont. Dieses Ziel können wir

nur umsetzen, wenn wir alle,

die wir uns den katastrophalen

Folgen unseres übermäßigen

Ressourcenverbrauchs, des Klimawandels

und des Verletzens

von Menschenrechten weltweit

bewusst sind, viel Energie und

Zeit für das politische Engagement

nehmen, um dagegen anzukämpfen.

Fazit: Christlicher Glaube

motiviert zur Vernunft

Das christliche Menschenbild

vermittelt uns nicht konkrete

Werte, die wir – wie die Menschenwürde

– ja auch vernünftig

erschließen können, sondern ist

der Garant für die Objektivität

der Vernunft und die existentielle

Motivation zur Vernunft. Es

ist Antwort auf die Frage „Warum

soll ich überhaupt vernünftig

handeln?“ und deshalb für die

Ethik unerlässlich.

Wer ein christliches Menschenbild

vertritt, macht sich bei

komplizierten Fragen, ob sie in

den Bereich des Lebensschutzes,

der Ökologie, der Finanzkrise

oder der persönlichen Lebensgestaltung

fallen, viele Gedanken,

informiert sich über die Folgen

für alle auf Erden lebenden Menschen,

im Jetzt und in der Zukunft

und wägt ab. Diese Abwägung

macht sie oder er „im Zweifel für

die Sicherheit“, das heißt unter

Vermeidung von existentiellen

Risiken für sich und andere;

Wirtschaftliche oder persönliche

Nachteile müssen dabei in Kauf

genommen werden. Vernünftige

Normen sind global und universell,

und mir scheint es, dass in

der ÖDP fast alle so denken – ob

sie sich nun als Christen bezeichnen

oder nicht.

 

Johannes Grössl

Jahrgang 1985, studierte Katholische Theologie und Philosophie

in München und Harvard. Zurzeit arbeitet er als Lehrbeauftragter

am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie der LMU München

und ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Forschungsprojekt

„Analytische Theologie“ der Universität Innsbruck. 2005

trat er in die ÖDP ein und ist seither Vorstandsmitglied im

Bezirksverband München. Am 13.09.2011 hielt er in München

den Vortrag „Christliches Menschenbild, Aufklärung, Humanismus

– Worauf basieren die Werte unserer Gesellschaft?“, der

Grundlage dieses Artikels ist.


 

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