[Download PDF] Auch im 21. Jahrhundert zeigt sich in vielen politisch-religiösen Konflikten, dass religiöse Wertvorstellungen oft nicht mit denen unserer „aufgeklärten“ Gesellschaft übereinstimmen. Wie sollen wir damit umgehen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zuerst das Verhältnis von Religion und Ethik – also auch das von Glaube und Vernunft – klären. ÖkologiePolitik 153 (2012), S. 24 - 26.
Angela Merkel sagte im vergangenen Jahr bei einer Rede: „Wir fühlen uns dem christlichen Menschenbild verbunden, das ist das, was uns ausmacht.” Außerdem meinte sie, wer das nicht akzeptiere, „der ist bei uns fehl am Platz“. Doch gibt es überhaupt eine einheitliche Vorstellung von diesem Menschenbild? Wodurch unterscheidet es sich vom Menschenbild der Aufklärung, vom Humanismus? Ist die Rede von christlich-abendländischen Wertvorstellungen, vom christlichen Menschenbild und von der religiösen Prägung unserer Kultur nur eine politische Floskel um Wählerstimmen einzufangen?
Merkels Rede wurde von Laizisten, Religionskritikern und Atheisten äußerst negativ bewertet. Gegen den Angriff, sie würde die Trennung von Staat und Kirche aufheben, muss man die Bundeskanzlerin aber verteidigen: Sie sprach ja nicht vom christlichen Glauben, sondern vom christlichen Menschenbild.Doch trifft ihre These wirklich zu? Selbst, wenn man von den negativen Seiten der christlichen Geschichte absieht und die Zehn Gebote oder die Lehren Jesu in den Vordergrund stellt, erkennt man einige Differenzen zwischen den als Menschenrechte verkündeten Normen und manch christlichen Lehren.
Dabei haben die Menschenrechte, auch wenn diese später teilweise gegen die Macht der Kirche durchgesetzt werden mussten, eindeutig christliche Wurzeln und sind schon im mittelalterlichen Naturrechtsgedanken angelegt. Naturrechte sind rein durch die Vernunft erkennbare Rechte und unabhängig von Religionszugehörigkeit oder göttlicher Offenbarung einsichtig und verpflichtend. Diese naturrechtliche Tradition hatte auch politische Konsequenzen, denkt man nur an die päpstliche Bulle Sublimis Deus aus dem Jahr 1537, die die Versklavung der indianischen Ureinwohner von Amerika und prinzipiell aller Menschen verbot. Dabei verteidigte Papst Paul III auch das Recht aller Menschen auf Freiheit und Eigentum. Der Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas verwendete zu dieser Zeit den Begriff Menschenrechte in seinem Einsatz für die Rechte der Indios in Peru. Die auch die in der Kirche oft gebilligte Unterdrückung und Sklaverei schrieb Las Casas dem Einfluss der griechischen Philosophie zu: „Wenn Aristoteles behauptet hatte, es gebe Sklaven von Natur aus, umso schlimmer für die Philosophie dieses Heiden!“ Jeder Mensch habe das Recht, den christlichen Glauben kennenzulernen und sich frei dafür zu entscheiden; daraus folgen, so argumentierte Las Casas, grundlegende Menschenrechte. Obwohl diese Rechte heute als selbstverständlich gelten, waren sie damals revolutionär und nur schwer gegen die politische Elite durchsetzbar, die ja von der Sklaverei und Kolonialisierung enorm profitierte. Insgesamt jedoch, so der Politikwissenschaftler Henning Ottmann, kann man Las Casas als einen „Vordenker der Rechte der Menschen und der Völker“ bezeichnen. Die Begründung von Normen Wie begründet man aber nun ethische Normen? Ein Verweis auf ein bestimmtes Menschenbild ist dafür sicher nicht ausreichend. Denn dann stellt sich die Frage, wie denn ein bestimmtes Menschenbild begründet ist. Worin sind Werte und daraus abgeleitete Normen letztlich begründet? Vereinfacht dargestellt gibt es auf diese Frage drei mögliche Antworten.
- Möglichkeit 1: Gott hat die Normen erschaffen und kann sie beliebig ändern.
- Möglichkeit 2: Sie sind vernünftig und, weil die Vernunft objektiv ist, universell gültig und für jeden Menschen einsichtig.
- Möglichkeit 3: Wir geben uns unsere Normen selbst bzw. sie haben sich durch die Evolution entwickelt.
Die letztgenannte Möglichkeit ist – vor allem im naturwissenschaftlichen Diskurs – heute die am meisten verbreitete Auffassung. Vieles spricht dafür: Die Veränderung der Wertvorstellungen und gesellschaftlicher Normen im Verlauf der Zeit, die Verschiedenheit der Wertvorstellungen zwischen den Kulturen, die evolutionären Vorteile von altruistischen Handlungen innerhalb einer abgegrenzten Gesellschaft. Dagegen spricht aber die Bedeutung des Wortes „Norm“. Angenommen, ein Mensch oder eine Gesellschaft kann sich seine bzw. ihre Regeln selbst setzen und beliebig verändern, so muss sich niemand gegen den eigenen Willen einer Norm unterwerfen.Ein Mensch kann vernünftig einsehen, dass es für die Gesellschaft am besten wäre, wenn er die Norm einhielte; aber diese Einsicht würde ihn nicht automatisch dazu verleiten auch das zu tun, was am besten für die Gesellschaft wäre, vor allem dann, wenn er persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen hätte.
[Wenn man also der Auffassung ist, Normen sind subjektiv und nur vom Menschen geschaffene Konstrukte, dann darf man ei-gentlich nicht mehr von Nor-men reden, sondern nur noch von „gesellschaftlichen Moralvorstellungen“ oder Regeln. Wenn ich die Regeln breche, ist das allein meine Verantwortung; ich müsste dabei natürlich die Sanktionen der Gesellschaft annehmen, aber wenn der Staat nicht herausfindet, dass ich meine Steuern hinterzogen, jemanden gefoltert oder ermordet habe, dann wäre die Tat an sich weder gut noch schlecht. Der Mensch ist auf seinen eigenen Vorteil bedacht, und selbst jede Nettigkeit gegenüber anderen ist darauf zurückzuführen: Ich bin freundlich zu anderen, damit sie auch mir gegenüber freundlich sind. Ich begehe keine Straftaten, weil ich nicht ins Gefängnis kommen will. Ich akzeptiere die Menschenrechte, weil ich auch diese Rechte für mich in Anspruch nehmen möchte.]
Würde eine solche subjektive Ethik demnach nicht völlig ausreichen? In einem demokratischen Staat mit guten Kontroll- und Sanktionsmöglichkeitenverhalten sich doch die meisten Menschen gesellschaftstauglich,auch wenn sie nicht an objektiveWerte oder sogar an Gott glauben. Doch dabei gibt es ein Problem: Fallen diese Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten weg, bricht Chaos aus. Man denke nur an Bürgerkriege oder auch an die bürgerkriegsähnlichen Zustände, die wir die letzten Jahre in Paris und London erlebt haben. Dort haben sich in manchen Stadtteilen Parallelgesellschaften mit eigenem Rechtssystem gebildet und Polizisten trauen sich zeitweise kaum mehr hinein. Rechte existieren in einer subjektivistischen Ethik nur so lange, wie jemand da ist, der das Recht anerkennt. Wenn ich z. B. im Iran lebe und im Einklang mit der Gesetzgebung gefoltert werde, gäbe es kein Recht, auf das ich mich beziehen könnte, wenn ich den Folterer anschreie: „Du darfst das nicht!“
Die Menschenrechte sind also ohne Bezug auf objektive – nicht vom Menschen konstruierte – Normen nicht begründbar. Sie sind ein „Affront gegen die Faktizität“. Wir glauben daran, dasses Rechte gibt, die so universell sind, dass es keinen Menschen braucht, um das Recht anzuerkennen, damit es gültig ist. Wir glauben auch daran, dass diese Rechte vernünftig begründet werden können.
Wer objektive Menschenrechte ablehnt, kann sich nicht gegen das Recht des Stärkeren aussprechen. Ein solches führt aber letztlich zu einer Ideologie, die sich an Nietzsche anlehnt und mit dem Nationalsozialismus verwandt ist. Hitler hat sie konsequent durchgehalten: Als sich die Niederlage Deutschlands abzeichnete, sprach er den Deutschen das Recht auf Leben ab, weil sie sich nicht als die Stärkeren erwiesen hatten.
Wenn wir die Menschenrechte aber akzeptieren, dann müssen wir auf eine der vorher genannten Möglichkeiten 1 oder 2 ausweichen: Die Normen sind universell gültig, entweder weil sie von Gott erschaffen wurden, oder weil sie vernünftig sind unddie Vernunft selbst objektiv ist.
Gott, Vernunft und Moral Wie das Verhältnis von Gott und Moral ist, wurde schon vor der Entstehung des Christentums diskutiert. Platon fragte, ob Gott etwas will, weil es gut ist, oder ob etwas gut ist, weil Gott es will. Wenn Gott durch seinen Willen allein festlegen kann, was gut ist, dann muss er uns seinen Willen auch mitteilen; durch bloßes Nachdenken kann dieser nicht ergründet werden. Gott muss daher – entweder durch Propheten, in einer Inkarnation oder durch das individuelle Gewissen – zu jedem Menschen sprechen.
Doch alle diese Ansichten
wurden von der Religionskritik
zur Zeit der Aufklärung stark
angegriffen. Wie kann man Offenbarung
von Lügengeschichten
oder Halluzinationen unterscheiden?
Wie kann man das göttliche
Gewissen vom Freudschen Über-
Ich unterscheiden? Warum sollte
man Wunderberichten glauben,
wenn diese zur Bekräftigung
einander widersprechender Offenbarungsansprüche
in verschiedenen
Traditionen geltend
gemacht werden?
Die Vorstellung von einem
Gott, der den unwissenden Menschen
mitteilt, was gut und was
böse ist, ist trotzdem noch weit
verbreitet. Viele Menschen verschiedener
Religionen glauben,
eine bestimmte Botschaft sei von
Gott diktiert und der Mensch
müsse die enthaltenen Normen
– ohne sie hinterfragen zu dürfen
– bedingungslos annehmen
und umsetzen. Andere haben ein
blindes Vertrauen in ihr Gewissen
oder Bauchgefühl, ohne die
Folgen ihrer Handlungen wirklich
zu durchdenken und abzuwägen.
In der christlichen Tradition
wurde viel über die Rolle der
Vernunft im Glauben und in der
Ethik gestritten. Die franziskanische
Schule vertrat im 13./14.
Jahrhundert, das Gute sei vollständig
von Gottes Willen abhängig.
Durchgesetzt haben sich aber
die Anhänger des Dominikaners
Thomas von Aquin, der dafür
eintrat, dass Gott das Gute will,
eben weil es gut und vernünftig
ist. Die Vernunft selbst sei dabei
nicht Gottes Willen unterworfen,
sondern ist Teil des göttlichen
Wesens: Gott ist die Vernunft.
Gottes Allmacht geht daher nur
soweit, dass Gott nichts logisch
Widersprüchliches oder seinem
Wesen Widersprechendes
tun kann. Er kann – um ein berühmtes
Bild zu verwenden – weder
einen Stein erschaffen, der so
schwer ist, dass er ihn selbst nicht
heben kann, noch kann er durch
seine Willensentscheidung festlegen,
dass das Böse zukünftig gut
und das Gute zukünftig böse sei.
Mit einem solchen Gottesbild
sind wir nicht mehr auf eine
Offenbarung angewiesen, um
zu wissen, was gut und böse ist.
Jeder Mensch kann mithilfe seines
Verstandes die Rechte und
die Pflichten, die ihm als Mensch
von Natur aus zukommen, herausfinden.
Dass es solche autonomen
Werte gibt, und dass die
Menschenwürde zu diesen autonomen
Werten zählt, das akzeptieren
mittlerweile auch (bzw.
wieder) große Teile der christlichen
Kirche. Das Werk „Autonome
Moral und christlicher
Glaube“ des Tübinger Theologen
Alfons Auer gilt heute als Standardwerk
der Moraltheologie.
Doch hier sehen wir einen
eklatanten Widerspruch zwischen
der Gleichsetzung von
Menschenwürde mit christlichen
Werten einerseits und reflektierten
theologischen Auffassungen
andererseits. Während
die Gleichsetzung häufig von
CDU-Politikern vertreten wird,
sagt die Theorie der autonomen
Moral, dass die Inhalte der Ethik
gerade nicht im Glauben begründet
werden dürfen. Gründete
man die Normen im Glauben,
wäre der Ungläubige demnach
gar nicht zum rechten Handeln
fähig.
Vernünftiges Handeln und gute Taten
Es gibt folglich nicht christliche
und nicht-christliche Normen,
sondern nur vernünftige Normen.
Christliche Werte können
darüber hinausgehen, aber diesen
niemals widersprechen. Vernünftige
Normen sind die Basis,
die alle Menschen erkennen können
und denen alle Menschen
verpflichtet sind. Dazu gehören
die Menschenrechte als Abwehrrechte
des Einzelnen gegenüber
anderen Menschen oder dem
Staat und auch das Recht auf Eigentum.
Nicht eindeutig darunter
fällt jedoch, was wir heute unter
den sozialen Menschenrechten
verstehen, manchmal auch als
Menschenrechte der 2. Generation
beschrieben: Anspruchsund
Teilhaberechte, die dem
einzelnen Menschen das Recht
auf Nahrung, auf soziale Sicherheit,
auf Erholung und Freizeit,
das Recht auf Ausbildung und
Sicherheit bei Arbeitslosigkeit,
Krankheit oder Invalidität garantieren,
dazu auch das Recht
auf politische Mitbestimmung
und Teilhabe am kulturellen Leben.
Warum sollten wir fremden
Menschen helfen? Sind wir dazu
verpflichtet, einem Hungernden
Nahrung zu geben, wenn wir keine
Mitschuld an dessen Armut
tragen? Sind wir dazu verpflichtet,
uns in Vereinen und Parteien
für Mensch, Tier und Umwelt zu
engagieren, auch wenn wir dafür
persönliche Nachteile in Kauf
nehmen müssen, zum Beispiel
unser Privatleben vernachlässigen?
Solch eine Pflicht lässt sich
nicht aus den Menschenrechten
ableiten. Tatsächlich sind wir
durch unseren Lebensstil indirekt
für einen großen Teil der Armut
in der Welt mitverantwortlich;
deshalb kann man, selbst wenn
man nur die Pflicht andere nicht
zu verletzen annimmt, für eine
Pflicht zum ethischen Konsum
und sozialen Engagement argumentieren.
Doch sind wir zur Selbstlosigkeit
verpflichtet? Es scheint
eher Handlungen zu geben, die
gut sind, aber nicht verpflichtend.
Diese werden von Thomas
von Aquin als supererogatorische
Handlungen bezeichnet. Heilige
sind nicht dadurch besonders,
dass sie ihre Pflichten erfüllt haben,
während alle Nicht-Heiligen
keine guten Menschen sind, sondern
Heilige haben sowohl ihre
Pflichten erfüllt als auch viele
weitere selbstlose Werke der Liebe
vollbracht, viele sind sogar für
ihren Glauben oder für ihre Mitmenschen
in den Tod gegangen.
Wenn wir also sagen, unser
Staatswesen basiere auf dem
christlichen Menschenbild, meinen
wir, dass es nicht funktionieren
würde, wenn der Staat nur die
grundlegenden Menschenrechte
garantierte und sonst jeder einzelne
bzw. jede Familie oder jeder
Clan nur seinen eigenen Nutzen
verfolgte.
Wir kennen einen solchen Ansatz
durchaus vom starken politischen
Liberalismus, den viele
Republikaner in den Vereinigten
Staaten verwirklichen wollen:
Der Staat soll nur die Sicherheit
der Person und des Eigentums
garantieren und wirtschaftliche
Monopole verhindern. Der Sozialstaat
ist damit aber nicht vereinbar,
er ist Folge eines christlichen
Menschenbildes, er ist quasi
die institutionalisierte Nächstenliebe.
Diese Bezeichnung mögen
viele für ungerechtfertigt halten,
denkt man an die massiven Sozialeinschnitte
der Hartz-Reform
und die immer noch bestehende
Kinder- und Bildungsarmut in
Deutschland; aber wir müssen
im Auge behalten, dass nicht der
Staat die Sozialleistungen zahlt,
sondern die gesamte Gesellschaft.
In einer Demokratie, die keine
sozialen Menschenrechte garantiert,
könnten die Sozialleistungen
theoretisch immer weiter
heruntergefahren werden.
Mit sozialen Institutionen ist
die christliche Soziallehre lange
nicht erschöpft: Wenn sich in
Deutschland niemand engagieren
würde, ob in Parteien und
Gewerkschaften, in Naturschutzvereinen,
Kirchengemeinden,
Kultur- und Musikvereinen, im
freiwilligen sozialen Jahr oder im
Bundesfreiwilligendienst, dann
könnte unsere Gesellschaft nicht
stabil funktionieren.
Normen sind keine Glaubensinhalte
In der Theologie des 20. Jahrhunderts
wurde der Begriff der Offenbarung
völlig neu betrachtet.
Früher hat man sich vorgestellt,
Offenbarung bedeute, dass Gott
oder ein von Gott legitimierter
Engel oder Prophet direkte
Anweisungen an die Menschen
übergibt, was sie tun und was sie
lassen sollen, was gut und was
schlecht ist. Heute versteht man
– zumindest in der liberalen katholischen
und protestantischen
Theologie – darunter eher eine
Selbstmitteilung Gottes; die Bibel
selbst ist menschliches Zeugnis
der Offenbarung, die Jesus
Christus ist. Da der Mensch nach
Gottes Ebenbild geschaffen ist,
gibt die Offenbarung in Jesus
Christus also Auskunft über uns
selbst, zeigt uns, was das Wesen
des Menschen ist.
Die oft gestellte Frage „Was
würde Jesus tun?“ ist also sehr
relevant in der Frage nach dem
christlichen Menschenbild. Und
dabei gehen wir nicht davon aus,
dass Jesus von Nazareth göttliche
Eingebungen hatte, dass der Vater
dem Sohn moralische Regeln
diktiert; in diesem Fall wäre Jesus
nicht, wie das Dogma lautet, ganzer
Mensch und ganzer Gott. Um
ganz Mensch zu sein, musste Jesus
auf natürlichem Wege – und
das ist der Weg der Vernunft,
des Nachdenkens, des Abwägens
und des Schlussfolgerns, vor
dem Hintergrund der jüdischrömischen
Kultur, in der er lebte
– zu seinen Überzeugungen gelangt
sein. Jede übernatürliche
Kraft, auch bezüglich seines Wissens,
würde dazu führen, dass er
nicht mehr zu einhundert Prozent
Mensch ist, sondern eine
Art Übermensch oder ein auf der
Erde wandelnder Gott.
Obwohl immer wieder versucht
wird, für jede ethische
Frage biblische Unterstützung zu
finden, sagt das Vorbild Jesu oder
derer, die ihm nachfolgten, nichts
darüber aus, ob wir Bankenspekulation,
Abtreibung oder Präimplantationsdiagnostik
zulassen
sollten. Diese Fragen müssen
wir durch vernünftige Abwägung
selbst klären. Das Vorbild Jesu
sagt aber, dass, wenn wir, unter
Einbeziehung der Folgen für alle
lebenden und zukünftigen Menschen,
die vernünftige Antwort
gefunden haben, wir diese auch
umsetzen und dafür einstehen,
selbst wenn es uns persönliche
Nachteile bringt. Bei Jesus war
dieser persönliche Nachteil der
Tod am Kreuz; heute sind die
Nachteile zum Glück viel geringer.
Eine gerechte Weltgesellschaft
lässt sich nur dann erreichen,
wenn wir in den westlichen Ländern
massiv Konsumverzicht
üben, was die ÖDP seit langem
betont. Dieses Ziel können wir
nur umsetzen, wenn wir alle,
die wir uns den katastrophalen
Folgen unseres übermäßigen
Ressourcenverbrauchs, des Klimawandels
und des Verletzens
von Menschenrechten weltweit
bewusst sind, viel Energie und
Zeit für das politische Engagement
nehmen, um dagegen anzukämpfen.
Fazit: Christlicher Glaube
motiviert zur Vernunft
Das christliche Menschenbild
vermittelt uns nicht konkrete
Werte, die wir – wie die Menschenwürde
– ja auch vernünftig
erschließen können, sondern ist
der Garant für die Objektivität
der Vernunft und die existentielle
Motivation zur Vernunft. Es
ist Antwort auf die Frage „Warum
soll ich überhaupt vernünftig
handeln?“ und deshalb für die
Ethik unerlässlich.
Wer ein christliches Menschenbild
vertritt, macht sich bei
komplizierten Fragen, ob sie in
den Bereich des Lebensschutzes,
der Ökologie, der Finanzkrise
oder der persönlichen Lebensgestaltung
fallen, viele Gedanken,
informiert sich über die Folgen
für alle auf Erden lebenden Menschen,
im Jetzt und in der Zukunft
und wägt ab. Diese Abwägung
macht sie oder er „im Zweifel für
die Sicherheit“, das heißt unter
Vermeidung von existentiellen
Risiken für sich und andere;
Wirtschaftliche oder persönliche
Nachteile müssen dabei in Kauf
genommen werden. Vernünftige
Normen sind global und universell,
und mir scheint es, dass in
der ÖDP fast alle so denken – ob
sie sich nun als Christen bezeichnen
oder nicht.
Johannes Grössl
Jahrgang 1985, studierte Katholische Theologie und Philosophie
in München und Harvard. Zurzeit arbeitet er als Lehrbeauftragter
am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie der LMU München
und ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Forschungsprojekt
„Analytische Theologie“ der Universität Innsbruck. 2005
trat er in die ÖDP ein und ist seither Vorstandsmitglied im
Bezirksverband München. Am 13.09.2011 hielt er in München
den Vortrag „Christliches Menschenbild, Aufklärung, Humanismus
– Worauf basieren die Werte unserer Gesellschaft?“, der
Grundlage dieses Artikels ist.
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